Volker Braun

Writer
Born 7/5/1939
Member since 1996

Georg-Büchner-Preis

Ich wurde 1939, an einem Sonntag vor dem Krieg, geboren. Mein Vater fiel am letzten Kampftag, mein 6. Geburtstag war der Tag der Befreiung und Besetzung. Dresden war zerstört, meine ästhetische Schule waren die schönen Ruinen. Sorglos und entsetzt begann ich zu leben. Meine Mutter ließ uns fünf Söhne, der Not trotzend, dem Antrieb der Neigungen folgen; der Staat, abstrakter denkend, zwang mich auf die übliche Landstraße. Nach dem Abitur in die Produktion, der Rausch der Arbeit (an den Handbaggern) und die stumpfe Qual, eine Erfahrung der Ungleichheit, von schöpferischer und Dreckarbeit: der elementare Stoff des Schreibens. Selbstgefühl und Mitgefühl waren die geheimen Motoren, und die intimen Berichte wurden unverhofft zum öffentlichen Vorgang.
Wir waren eine Generation, die der Widerspruch großzog; soziale Revolution und politische Bedrückung, die konträren Wirklichkeiten diktierten unser Dichten, Satz und Gegensatz gleichermaßen gültig. Es war die Kunst, es stehnzulassen, unaushaltbar. Wir hatten ein Vaterland in zwei Welten, und unsere Lehrer waren Emigranten, die jetzt Kompromisse lehrten. Ich Vaterloser konnte mir die Väter aussuchen, Brecht trat in seine selbstverändlichen Rechte. Wir berieten uns zugleich mit den Toten, die die Worte genau und hart fügten, Klopstock, Hölderlin, Büchner; sie waren die Überlebenden und trugen enorm zur Geselligkeit bei. (Um das Wir zu entziffern: Mickel, Kirsch, Tragelehn u.a. gehörten ihm an, man sprach von der Sächsischen Dichterschule.) Auch die Magistrale des Marxismus führte, in Leipzig, statt auf die Höhe des Bewußtseins, in befreiende Abgründe; die hegelsche Dialektik Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig sog ich auf in der subversiven Wendung: daß keineswegs alles, was besteht, auch wirklich ist.
Am Berliner Ensemble, an das mich Helene Weigel holte, der Versuch eines philosophischen Volkstheaters: in unphilosophischer Zeit, in der das Volk eine unbegriffene große Rolle spielte. Was lag näher und ferner, als die Möglichkeiten geschichtlichen Handelns zu untersuchen. Ich schrieb ein paar Dramen mit Personen oder Unpersonen, deren Gedanken und Leiber zermahlen werden von der Macht. Ich sah die Geschichte marschieren, stillestehn und auseinanderlaufen; sah sie wiederum siegen und, wie es hieß, enden. Aus den Knochen des einzelnen war sie nicht zu erklären, aber nach dem Los des Letzten zu beurteilen. Die Antwort, warum ich mitten in den Katastrophen blieb, war die Frage nach einem anderen Globus der Chancengleichheit.
Mark Aurels Bekundung, ein Mann von vierzig Jahren, in genügend hoher Stellung, habe alles Wesentliche erfahren, was je zu erfahren sein wird – diese abgeklärte Lehre sei, sagte Bloch, vor der Geschichte zuschanden geworden. Aus genügend niedriger Sicht sehe ich das gelassen. Daß die Arbeit auf eine Wende zu paradox im Umbruch endete, hat mir, im Alter von fünfzig, eine Biografie verschafft. Aber was denn als der Alleingang bleibt die Lust, der Schmerz der Poesie.
In lärmender Zeit, ohnehin, der ironische Beruf, sich freizuschaufeln aus dem Müll der Meinungen, dem Flugsand der Rezensionen, und mühsam sich seiner selbst zu erinnern, seiner leibeigenen Existenz. Zuwider ist mir Macht, Dichtung ist die Sprache, die sie desavouiert, indem sie von Liebe spricht, Geschlecht, Tod und Gemeinsamkeit.
Sagte ich: meiner selbst? Immer gerate ich in Landschaften, die unbeirrt blühende Natur, die Elbe, die ich noch, und Grünbein nicht mehr durchschwimmen konnte, Barockschutt, man kann in den Fundamenten wandeln. Der Widerspruch, das Eigenste nur als das, nur gegen das Gesellschaftliche formulieren zu können, läßt mich Einzelnen Ihr Votum, Mitglied dieser Akademie zu sein, dankbar annehmen.