Joseph Breitbach

Writer and Publicist
Born 20/9/1903
Deceased 9/5/1980
Member since 1969

Unakademische Betrachtungen zu einem gut gemachten Stück

Über die Bühnen Europas ging in den letzten Jahren ein höchst originelles Stück, das aus England kam: Die Küche von Arnold Wesker.
Wer das Stück ein paar Mal und in verschiedenen Inszenierungen gesehen hat, ein Fall, der zu diesen Betrachtungen führt, kann in nur steigendem Maße das dramaturgische Können bewundern, mit dem in diesem Werk Wort, Bild und Geräusche sich gegenseitig durchdringen und das Ohr des Zuschauers ebenso ununterbrochen beanspruchen wie sein Auge.
Der Ort der Handlung ist die Küche eines Restaurants, das, wie man im ersten Akt erfährt, täglich zweitausend Essen verabreicht. Es ist eines jener Abfütterungslokale, die sich in den großen Städten während der Mittagspause mit Lohn- und Gehaltsempfängern füllen. Feinschmecker kommen nicht dorthin und noch weniger Gäste, die sich viel Zeit zum Essen nehmen können.
Dieser Hinweis auf den Rahmen des Bühnengeschehens mag genügen. Denn der Haupthandelnde des Stückes ist der Zwang zur Schnelligkeit, unter dessen nervenpeitschender Fuchtel das Personal arbeiten muß. Die Kellnerinnen kommen in die Küche gefegt, rufen den Köchen die Bestellungen zu, verschwinden wieder in den Speisesaal, kehren mit neuen Bestellungen zurück und reklamieren heftig die bereits aufgegebenen, welche die Köche meist nicht so schnell haben ausführen können, wie die Kellnerinnen es, angetrieben von der Ungeduld der Kunden, erwarten.
Die Stimmen der gehetzten und die Köche hetzenden Kellnerinnen, die Flüche und die Gereiztheit des ganzen Küchenpersonals, die sich immer aggressiver entlädt, das alles hat sich kurz vor dem Ende des ersten Akts zu einem Paroxismus gesteigert, dessen akustische Wirkung der des Boléro Ravels in nichts nachsteht und ebenso jäh abbricht wie dieser.
Mit anderen Worten, Wesker zeigt die harten Bedingungen, unter denen das Personal eines solchen Massen-Restaurants während der Stoßstunden, den einzigen, die für die Kasse zählen, arbeitet.
Kein Wunder, daß in Paris die marxistische Presse das Stück protegierte. Mit ihrer Nachhilfe hatte es sich dann bald beim Personal der zahllosen Restaurants herumgesprochen, wessen Sache in dem Stück verfochten wird. Kellner und Köche kamen also in Massen und sahen die Härte ihres Berufs mit einer, selbst für das Ohr, geradezu unwahrscheinlichen Echtheit auf der Bühne gespiegelt. Die begreifliche Genugtuung darüber war um so größer als auch die anderen Zuschauer, narkotisiert von der Vehemenz des Bühnengeschehens, den im Stück auftretenden Besitzer des Restaurants für den Urheber der Hetze halten dürfen, die mittags das Personal nicht zum Atmen kommen läßt.
Man darf sich fragen, ob der Autor sich darauf beschränken wollte, etwas nur zu zeigen, nämlich Zustände, die schwer erträglich sind und die niemand wegleugnen kann, oder ob er die, durchaus geglückte, Irreführung der Zuschauer beabsichtigt hat. Denn Wesker läßt im Bühnengeschehen diejenigen nicht auftreten, deren Existenz die des Restaurants und seines Personals überhaupt bedingt, und die ihrerseits auf beide angewiesen sind: die Gäste.
Der Umstand, daß der Autor sie nicht vor die Rampe führt, ist eine Betrachtung wert. Diese gilt also nicht dem unbezweifelbaren künstlerischen Rang des Stücks, seiner Gestalt, sondern es ist sein Gehalt an Wahrheit, der hier geprüft werden soll, sein moralischer Rang.
Wie steht es damit, wenn ein Autor der Wirklichkeit das unleugbar Negative nur abliest, dessen Ursache und Zwangsläufigkeit aber im Zwielicht läßt?
Dabei wäre es für Wesker leicht gewesen, seinen Bühnenfiguren und damit den Zuschauern reinen Wein einzugießen. Es hätte genügt, sie vor die Frage zu stellen, ob zweitausend Verbraucher, die unter dem Zwang der Kürze ihrer Mittagspause alle zur selben Stunde essen müssen, ob diese von zwanzig Köchen und Kellnern verlangen können, in einer Rekordzeit bedient zu werden, und ob zwanzig Köche und Kellner sich während dieser Stoßzeit schonen und die Nerven der hungrigen und eiligen Gäste strapazieren dürfen. In welchen Ländern der Begriff »Dienst am Kunden« sich von selber versteht und in welchen Ländern nicht, auch diese Frage wird dem Zuschauer von Wesker geschickt unterschlagen, und so ist es schließlich nur logisch, daß in dem Stück keine Ausbrüche gegen die Gäste vorkommen und daß Wesker einen der Köche sogar sagen läßt, wenn Hochbetrieb herrsche, sei ihm besonders wohl. Hochbetrieb! Den wer verursacht? Der Besitzer?
Dennoch ist Weskers Zeigefinger immer nur gegen diesen ausgestreckt; aus dem Hinterhalt, aber wirkungsvoll.

II
Es käme einer Vergröberung des Bühnentextes gleich, wenn jetzt hier behauptet würde, Wesker mache den Besitzer des Restaurants zum bösartigen Menschenschinder; er läßt ihn nicht einmal die Köche zu schnellerem Arbeiten antreiben und bringt ihn überhaupt selten auf die Bühne. Beim ersten Mal kommt der Besitzer in die Küche und prüft, ob die Herde warm sind, aber schon das reißt die Köche, sobald er draußen ist, zu Ausbrüchen des Hasses hin. Er sei zum »Schnüffeln« gekommen, zur Kontrolle.
Das Recht dazu sprechen ihm Angestellte ab, denen das Stehlen so selbstverständlich ist, daß der Chefkoch einem der ihm unterstellten Köche, in Gegenwart der anderen rät, »in Zukunft« keine ganzen Hühner nach Hause mitgehen zu lassen, sondern Kotelette oder kaltes Fleisch. Huhn bausche die Taschen auf, man sehe es. »Warte, bis Du so alt bist wie ich, dann kannst Du Hühner klauen«.
Soviel Respekt vor der Wahrheit wie Wesker in der Szene plötzlich aufbringt, würde man vergebens in marxistischen Kirchenblättern suchen, wenn dort Reportagen über das Martyrium der Werktätigen veröffentlicht werden. In jener Erbauungsliteratur sind alle Arbeitnehmer wahre Parzifale an Redlichkeit. Dabei müßten Marxisten Diebstähle, von Arbeitnehmern am Arbeitsplatz begangen, vor der Öffentlichkeit, wenn nicht juristisch, so doch moralisch rechtfertigen: hat der kapitalistische Unternehmer nicht als erster mit dem Stehlen begonnen und unterschlägt er nicht den Arbeitern den Mehrwert ihrer Arbeit?
Es ist bemerkenswert, daß selbst darüber Weskers Köche sich nicht beklagen. Ihr Haß gegen den Besitzer ist an keiner Stelle von marxistischer Überzeugung geprägt. Wovon aber? Man fragt es sich, rechnen sie es dem Besitzer doch sogar als Verbrechen an, daß er sich mit seinem Restaurant identifiziere, schon um fünf Uhr morgens auf den Markt gehe und erst zu Bett, wenn der letzte Kunde gegangen sei. Dafür hassen sie ihn? Vor solchen Beweggründen müßten die Ideologen aller Lager sich das Haupt verhüllen.
Mit welchem Kunstgriff hat Wesker es erreicht, daß dennoch einzig dem Besitzer von den Zuschauern die Schuld an all dem zugeschoben wird, was den Köchen jeden Mittag die Stoßzeit zur Nervenfolter macht?
Einmal angenommen, das Restaurant fiele dank einer Revolution dem Personal oder dem Staat zu, wären dann die Angestellten, endlich von der Aufsicht durch den kleinen Kapitalisten befreit, auch von der Hetze befreit, die in Weskers Stück die Küche zur Hölle macht? Denn die Darstellung jener Hetze ist es ja, die den Zuschauer mit Empörung gegen ein Wirtschaftssystem erfüllt, oder erfüllen soll, das den Köchen eines Massen-Restaurants unabstreitbar zwei Stunden am Tag eine teuflische Fron auferlegt. Deren Anprangerung auf der Bühne verstellt dem zu Emotionen gebrachten, aber vom Denken abgelenkten Zuschauer den Blick, den er von den evidenten Phänomenen auf deren Ursachen lenken müßte.
Diese Ursachen sind in jedem Restaurant der Kategorie, die Wesker zeigt, die gleichen: für zweitausend Gäste, also für zweitausend Verbraucher, und nicht – wie Wesker suggeriert – für den Besitzer oder Direktor des Restaurants müssen sich zwanzig Köche und Kellnerinnen in den Stoßstunden abschuften und müßten es, wenn sie die Pflichten ihres Berufes ernstnehmen, auch dort tun, wo das Gastgewerbe sozialisiert ist.
Aus dieser Zwangsläufigkeit ist politisch-ideologisch kein Kapital zu schlagen, keine Anklage herauszuschinden. Zwanzig zu zweitausend, diesen Zahlen ist das Verhältnis des Versorgers zum Verbraucher abzulesen.
Um so auffallender ist es, daß Wesker sich hütet, die Zahlen zwanzig und zweitausend das Verhältnis des Versorgers zum Verbraucher beleuchten zu lassen und auf diese Weise dem Zuschauer zu zeigen, wo das Kreuz der Köche seine Ursache hat. Diese lenkt Wesker von den zweitausend Urhebern ab, auf einen Sündenbock, auf einen kleinen Kapitalisten. Als ob man diesen nur abschaffen müsse, und als ob dann das aus der Welt geschafft wäre, was in der ganzen Welt während zwei Stunden am Tag zwanzig Köche und Kellner zu Opfern von zweitausend Gästen macht.

Die Zwangsläufigkeiten, unter denen das Gastgewerbe steht, gibt es die nicht überall dort, wo – mit was auch immer – der Verbraucher schnelle Versorgung erwartet? Unter welchem Zwang zum schnellen Arbeiten kommt, zum Beispiel, eine Zeitung zustande, will sie morgens pünktlich dem Abonnenten die allerjüngsten, selbst die während des Umbruchs eingetroffenen Depeschen bringen. Die Nachsicht des Abonnenten, kommt eine Zeitung einmal später als gewohnt, ist ebenso gering wie die Geduld von Gästen, die auf ihr Essen warten.
Wenn Wesker die Zustände, die in einem Zeitungsbetrieb unvermeidbar sind, zum Gegenstand eines Stückes gemacht hätte, würde er es gewagt haben, dem Zuschauer zu suggerieren, der Besitzer oder der Direktor der Zeitung seien für die Hetze verantwortlich, unter der jene täglich entsteht? Oder würde Wesker es endlich zum wahren Konflikt kommen lassen: dem zwischen Versorger und Verbraucher. Deren unmittelbare Interessen sind zwar miteinander verknüpft, prallen aber feindlich aufeinander, sobald der Versorger versagt ... wenigstens in den Ländern, wo der Wettbewerb der Produzenten und Verteiler den Verbraucher zum König macht.
Die Abhängigkeit des Versorgers von der Macht des Kunden ist in Weskers Stück mit großem Geschick umsuggeriert in eine Abhängigkeit des Personals von der Macht des Arbeitgebers. Obendrein soll der Zuschauer nicht auf den Gedanken kommen, daß die Angestellten mitbetroffen wären, wenn sie die Unzufriedenheit der Gäste und damit den Bankrott des Restaurants verursachten. Daß die Abhängigkeit des Besitzers von dem Kunden größer ist als die der Köche, auch das zeigt Wesker keinen Augenblick, denn dann würde offenbar, wieviel weniger als der Besitzer die Angestellten verlieren würden, wenn das Restaurant schließen müßte.
Durch diese Unterlassung vertuscht Wesker den unvermeidlichen Gegensatz, der zwischen Versorger und Verbraucher besteht, und der immer und überall, gleich unter welchem Wirtschaftssystem, bestanden hat.
Es fehlt in dem Stück eine Szene, die Wesker dem Thema schuldete: der unmittelbare Zusammenstoß zwischen Köchen und Gästen. Wesker hätte, zum Beispiel, die Köche ihre blinde Wut an die richtige Adresse, nämlich in den Speisesaal richten, sie und die Kellnerinnen im Schneckentempo arbeiten, die mit Recht empörten Gäste die Küche stürmen und es zu dem Zusammenstoß kommen lassen können, der den Gegensatz der Interessen des Versorgers und der des Verbrauchers aufgedeckt hätte. Statt dessen hat er, mittels des Zeigefingers, den er gegen den Besitzer ausstreckt, diesen Gegensatz unter einem ideologischen Fertigkleidchen versteckt, das er, sicher, daß es unfehlbar gefalle, unbesehen nur von der Stange zu nehmen brauchte.
Das Stück spielt schließlich nicht in einem jener Länder, wo der Staat konkurrenzlos der einzige Versorger und wo der Verbraucher entrechtet und dem guten oder bösen Willen allmächtiger Beamter oder Produzenten ausgeliefert ist, von denen er sich vorschreiben lassen muß, was er überhaupt konsumieren kann, wie viel, und wann er es darf, und die er, wenn sie selbst seine primärsten Bedürfnisse und Wünsche nicht respektieren, sogar noch weniger strafen kann, als einen böswilligen Verkäufer oder einen indifferenten Kellner.
Jeder Mensch befindet sich, in welcher Rolle er sein Brot verdienen mag, immer auch in der des Verbrauchers und muß als solcher die Möglichkeit haben, seine Ansprüche bei denen durchzusetzen, die ihn versorgen oder ihm diese Versorgung vermitteln.
Wesker scheint nicht wahrhaben zu wollen, daß die Zahl der Verbraucher in unserer Zeit größer ist als die der Versorger und daß dies auch auf die sozialistischen Länder zutrifft. Selbst angenommen, er wisse nicht, daß dort der Versorger den Verbraucher knechten darf, so weiß er gewiß, daß dieser, im Westen, von jenem Höchstleistungen erwartet und es sich nicht gefallen ließe, halbe Tage vor staatlichen Läden Schlange zu stehen und in Speisestätten ganze Stunden auf Bedienung warten zu müssen.
Den Druck, unter den, im Westen, die legitimen Ansprüche des Verbrauchers den Versorger setzen, hat Wesker in seinem Stück unterschlagen. Damit verfälscht er die Ursache der harten, aber unleugbar zwangsläufigen Arbeitsbedingungen, die in der Küche gezeigt werden. Diese stellte er zwar, ohne sie zu pathetisieren, dar wie sie sind, doch es bleibt bei der halben Wahrheit, denn er enthält uns vor, wessen Interessen es in Wirklichkeit sind, die dort aufeinanderprallen.
Mit dieser, ihm doch wohl bewußten, Scheu vor der ganzen Wahrheit, hat Wesker den moralischen Rang seines Stücks fraglich gemacht und auch die Bühnenwirkung abgeschwächt, die im Thema lag. Schade.