Raoul Schrott

Germanist and Writer
Born 17/1/1964
Member since 2002

Ich heiße Raoul Schrott, was kein Pseudonym ist, bin auf einem Schiff geboren, wie ich gern behaupte; in Tirol groß geworden, nachdem ich in Zürich und Tunis lesen lernte, habe ich in Innsbruck, Norwich, Berlin und Paris studiert, über die Dadaisten dissertiert, mich an Poetiken von der Antike über das Mittelalter bis zur Gegenwart als Komparatist habilitiert, in Neapel Germanistik gelehrt, in Frankreich gelebt wie in Irland jetzt, dem 19. Jahrhundert noch die Hand geschüttelt, als ich in W. S. Guttmann dem Gründer des Neopathetischen Cabarets und Entdecker Georg Heyms begegnete, mit der Moderne dann in Person Philippe Soupaults Bekanntschaft gemacht, der mich als Sekretär und Leibschüsselauslehrer anstellte – worauf ich ein zweites Mal mit dem Schreiben begann, H. C. Artmann meine Lehrlingsarbeiten ablieferte, die Gesellenprüfung anhand von Übersetzungen sumerischer und walisischer, griechischer, römischer, arabischer, hebräischer, okzitanischer und sizilianischer Dichter ablegte und dabei doch nur ein wenig mehr Deutsch lernte, mich an Pound, Walcott, Brodsky und Heaney schulte, Gedichtbände über das Reisen, das Erhabene und das Heilige schrieb, über ein Finis Terrae meinen ersten, über ein im Ozean liegendes Ultima Thule den zweiten Roman vorlegte, Novellen über die Wüste und ihre singenden Sande verfaßte, an Essays über das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur arbeitete und in einem Libretto und zwei Theaterstücken auch anfing, das Sprechen einzuüben. An einem dritten Stück sitze ich gerade, ebenso wie an einer Übertragung der Ilias, mit Wolf Singer zusammen an einem Buch, das zeigen soll, daß die Grundlagen der Poesie und unseres Denkens dieselben sind, und trage den nächsten Roman mit mir herum.
Trotzdem will ich deswegen nicht behaupten, Schriftsteller zu sein – laut Grimms Wörterbuch ist ja damit eigentlich ein Konzipient gemeint, der rechtliche Schreiben aufsetzt. Wiewohl ich zwar an die Rechtschaffenheit meiner Buchhaltung glaube, erhebt sie doch keinen Anspruch auf Legitimität: die Schriftstücke, die unsereins am Stehpult abfaßt, sind Seiten eines imaginären Logbuchs; der Kontor, an den wir uns verdingt haben, eine Reederei, unter deren Flagge einzig Schiffchen aus Papier segeln. Jede Arbeit bleibt dabei ein ewiger Vorwurf. Selbst wenn man glaubt, ihm Sinnfälliges abgewonnen zu haben, skizziert man dennoch nur ein unermeßliches Meer, an dessen Ufer wir geboren sind, ohne geborgen zu sein: fluctuat nec mergitur. Dinge wie Baken und Bojen vor Augen, schreiben wir, um einen ewig sich entziehenden Horizont auszumessen, einen Standort im Hier und Jetzt zu bestimmen. Und obwohl kein Kurs als gesichert gelten kann, geschweige ein Wissen, kratzen wir dennoch unser ganzes Latein zusammen. Aber was werden wir dabei zu Geschichtenerzählern! Als könnte sich das unabsehbare Reale durch illusorisch Abgeschlossenes ersetzen lassen – oder es gar so etwas wie eine wahre Geschichte geben, in der sich geradlinig ereignet, was dann bloß rückwärts erzählt zu werden braucht. Wäre dem wirklich so, es gäbe weder Schönheit, noch Liebe oder Angst und das Leben einfach zu nennen. Aber die Tragödie des Lebens besteht nicht darin, daß es bitter, sondern daß es so unvereinbar glanzvoll sein kann, vor den Kopf stoßend.
Alles ist. Selbst wenn nichts bleibt. Deswegen glaube ich auch nicht an die Berufsbezeichnung ›Autor‹ und das Originäre, das sie behauptet. Denn um dieses Wandelbare und Flüchtige überhaupt erfassen zu können, muß man absehen von sich: erst wenn man in den Hintergrund tritt, beginnen sich Umrisse abzuzeichnen. Wer ich bin, ist deshalb letztlich bedeutungslos; von Interesse ist einzig die Welt, die wir den Worten abzugewinnen vermögen. Statt über mich kann ich deshalb ebensogut über meinen Namen reden, um dieses generisch Kaleidoskopische vorzuführen: Schrott geht auf das mittelalterliche 'schroten' zurück und stammt vom indoeuropäischen sker ab – ›schneiden, kratzen, graben, pflücken, sammeln, trennen, sieben‹ – und verweist auf die ältesten menschlichen Existenzgrundlagen. Davon abgeleitet hat sich vieles: Scherben und Scheren, Pflugscharen und Roboter; Skorpione und Karpfen; das Skrofulöse und der Skorbut, das Exkrement, alles Skatologische und Skaramouche, der Karneval, das Stück Fleisch als carnis und Wiener Schnitzel, der Cortex unseres Gehirns, das Schizophrene und der Schädel, das Skalpell, der Kaiserschnitt samt allen Caesaren, die Kriminologie ebenso wie die scientia aller Wissenschaften, aus demselben diskriminierenden Trennen aber auch jedwede Skalen, Kriterien und die Kritik – und, weil sie zuerst in Ton- oder Wachstafeln gekratzt wurde, auch die Schrift.
Egal, mit welchem Wort man beginnt, jedes führt schließlich zu ihr; doch was dazwischen liegt, das Hohe und das Niedere, das Lächerliche und das Ernste bringt erst die Literatur in eine Form, all das Disparate einer im Fluß befindlichen Welt. Dennoch bleibt sie dabei Flaschenpost. Sie zu signieren, bezeugt zwar den Wunsch, etwas von sich hinterlassen zu wollen, doch worüber man damit Auskunft gibt, ist letztlich nur ein Ort. Der meine liegt unweit der Datumsgrenze und stellt, aus dem 10 km tiefen Kermadecgraben steigend, eine der Sonntagsinseln dar. Auf den Namen Raoul wurde er getauft, nachdem der Kapitän eines Expeditionsschiffes auf dieser abgewandten Seite der Erde von der französischen Revolution erfuhr, er die meuternde Mannschaft bei Laune halten mußte und deshalb das nächste an der Kimm auftauchende Stück Land nach seinem bretonischen Lotsen benannte – wenn auch nur nach seinem Vornamen. So wenig renommiert bot sich die Insel dann auch dar, keine blaue Lagune, sondern der grau zerklüftete Kraterrand eines in sich verstürzten Vulkans, von Ratten heimgesucht seitdem und heute bis auf die Handvoll Freiwilliger einer Wetterstation unbewohnt. Soviel wußte ich, bevor ich mich einschiffte; nicht abzusehen war jedoch, daß der Wind gegen uns stehen und sich mit jedem Tag weiter gegen uns drehen würde. Ich übernahm die Hundswache, sah die Sterne milchig über den Himmel fließen und war oft genug dumm genug, ungesichert über die Reling ins Dunkel zu pinkeln; und je härter wir am Wind segelten, desto lauter sangen die Stahlschote, schwollen an und ab wie Baßsaiten in einem immensen Echoraum, jedes Einstechen des Bugs in die steilen Wellen wie der Aufprall eines schweren Körpers auf Beton, Zentner von Fleisch, daß man im Halbschlaf nicht mehr wußte, woher die Träume kamen. Nach fünf Tagen gaben wir auf und hielten auf Neuseeland zu; die Enttäuschung aber hielt sich die Waage mit der Erleichterung, die Insel nicht gesehen zu haben: als wäre dadurch in einer Hälfte des Lebens offen geblieben, was sich in der anderen festschreibt.