Mark H. Gelber

Germanist
Born 21/1/1951
Member since 2001

Herr Präsident, sehr verehrte Damen und Herren!
Am 11. September, vor anderthalb Monaten, bereitete ich mich auf den feierlichen Abschiedsabend der internationalen Sommeruniversität in Beer Sheva für Hebräisch, Jüdische Studien und Israelwissenschaften vor. Ich hatte vor vier Jahren einen Hochschulferienkurs in Israel für deutsche Studenten initiiert, und von Anfang an habe ich ihn persönlich geleitet. Dieses Jahr vereinigte ich größtenteils das Sommerprogramm für amerikanische Studenten mit diesem deutschen Kurs. Es kamen diesen Sommer beinahe hundert ausländische Studenten zu uns, insgesamt viel weniger als noch vor einem Jahr, die Hälfte deutschsprachig und die andere Hälfte englischsprachig. Aufgrund der erhöhten Gefahr von Terrorismus, die seit mehr als einem Jahr in Israel herrscht, bedeutete diese Anzahl von eingeschriebenen internationalen Studenten dennoch einen beträchtlichen Erfolg für uns. Unsere internationalen Studenten haben 6 Wochen lang Hebräisch gelernt. Sie besuchten darüber hinaus täglich Vorträge und Lehrveranstaltungen und nahmen an archäologischen Exkursionen, Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden und Diskussionen mit israelischen Kommilitonen teil. Ich selbst habe eine Reihe von Vorträgen über deutsch-jüdische Literaturbeziehungen gehalten, zusätzlich zur organisatorischen Arbeit, die ich zu leisten hatte. Eine meiner Absichten ist es, deutschen Studenten die einzigartige Gelegenheit zu bieten, sich gerade in Israel und inmitten einer international zusammengesetzten Studentenschaft mit komplizierten Themengefügen, wie dem Holocaust und dem persönlichen Verhältnis zu Juden und Israel, auseinanderzusetzen.
Während ich die Vorbereitungen zur Abschiedsfeier traf, erhielt ich am Vormittag eine gefaxte Kopie eines enthusiastischen Berichts über das Programm der Sommeruniversität, der am selben Tag in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« erschienen war. Etwas später kam auf allen Fernseh- und Radiokanälen die unglaubliche, tragische Botschaft über die große Katastrophe in den USA, in Washington und in New York, meinem Geburtsort, in dem ich immer noch ein Büro für internationalen Studentenaustausch leite und in dem ich viele Familienmitglieder zähle. Während die Konsequenzen der tragischen Ereignisse noch kaum zu begreifen waren, nahm die Abschiedsfeier der Sommeruniversität, die an diesem Abend am Abrahamsbrunnen, dem uralten Friedensbrunnen in der Altstadt, stattfand, unvermeidlich einen ganz anderen Charakter an.
Einige wichtige Fäden meines Lebenslaufs sind in diese Version meines Tagesablaufs am historischen Septembertag verflochten. Aber ich darf folgendes ergänzen: Ich entschied mich als junger Schüler in den USA, Deutsch zu lernen, damit ich den Holocaust besser verstehen könnte. Vielleicht klingt diese Motivation seltsam oder unwahrscheinlich für Sie, aber sie ist durchaus authentisch. Ich habe später vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik an amerikanischen Universitäten studiert und besuchte in dieser Zeit auch im Rahmen von Studienaufenthalten Deutschland, Frankreich und Israel. Auf jeden Fall ist es mir nicht gelungen, durch das Erlernen der deutschen Sprache diese tragische Episode in der Geschichte der Menschheit besser zu verstehen. Statt dessen entdeckte ich eine faszinierende Sprache und Literatur, die mich unabhängig vom Zeitgeschehen und der grausamen Periode des Massenmords reizten.
Nach meinem ersten Studienaufenthalt in Israel und infolge der Begegnung mit einer lebendigen hebräischen Kultur setzte ich mich durch intensives Lesen und Diskussionen mit den Theorien des Zionismus und des Diaspora-Nationalismus auseinander. Ich vertiefte mich auch intensiver in die Jüdischen Studien. Allmählich ergab sich eine Übereinstimmung meiner akademischen Vorlieben und meiner intellektuellen Orientierungen im Rahmen der Literaturwissenschaft und Germanistik mit meiner persönlichen jüdischen Entwicklung. Während ich eine Doktorarbeit über den literarischen Antisemitismus vollendete, erklärte ich mich solidarisch mit dem humanistischen Zionismus im Sinne von Theodor Herzl und Martin Buber. Ich beabsichtigte, zusammen mit meiner Frau und meinen Kindern nach Israel auszuwandern, um idealistisch am Aufbau des Staates teilzuhaben. Meine Überlegung war, daß wir einen wesentlichen Beitrag am Ausbau des unentwickeltsten Teiles des Landes, des Negev in der südlichen Wüste, leisten könnten. Ich freute mich aufrichtig, als ich zum richtigen Zeitpunkt eine Stelle als Komparatist an der gerade erst in Beer Sheva gegründeten Ben-Gurion-Universität erhielt.
In der Jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem und im Zentralen Zionistischen Archiv entdeckte ich eine Fülle von Materialien und Quellen, die die große Tradition der deutsch-jüdischen Literatur und Kultur sowie das fast völlig vergessene Erbe der deutsch-zionistischen Literatur und Rezeption erschließen. Dies wurde im großen und ganzen zu meinem akademischen Feld und Forschungsschwerpunkt. Um die vernachlässigten oder unbekannten jüdisch-nationalen Perspektiven und Diskussionen über Leit- und Nebenfiguren in der deutschen und österreichischen Literaturgeschichte jenseits der engen Grenzen des Staates sowie jenseits der Stadtgrenzen der relativ abgelegenen Wüstenstadt Beer Sheva in einen internationalen Kontext zu stellen, organisierte ich eine Reihe von internationalen Symposien, die regelmäßig Referenten aus Europa und Nordamerika nach Beer Sheva brachten. Ich ging davon aus, daß es wohl nur in Israel möglich wäre, und darüber hinaus nur mit der aktiven Teilnahme eines kritischen internationalen Kreises von Gelehrten, dem allgemeingültigen Sinn der jüdisch-nationalen Perspektiven und der diesbezüglichen kulturellen Problematik und dem angemessenen intellektuellen Rahmen für diesen besonderen deutschsprachigen literarischen Ausdruck gerecht zu werden. In diesem Sinne tagten wir in den letzten zwanzig Jahren über Heine, Stefan Zweig, Wittgenstein, Kafka, Max Nordau, E. M. Lilien und andere. Auch habe ich einmal ein spannendes internationales Symposium über verspätete Erinnerungen und Memoiren über den Holocaust veranstaltet, in dem Stimmen und Meinungen von vier Generationen geäußert wurden.
In diesem Augenblick habe ich viele Danksagungen vorzubringen. Ich bedanke mich bei meiner Frau und meinen Kindern für ihre Unterstützung über die Jahre hinweg. Ich danke den Stiftungen, die meine Forschung finanziell unterstützt haben. Besonderen Dank schulde ich den vielen Lehrern und Professoren, die meine intellektuelle Entwicklung bereicherten. Zuletzt danke ich Ihnen, meinen Kollegen in der Akademie, die meine Kandidatur befürworteten. Es ist mir eine große Ehre, als Mitglied in Ihre Gesellschaft aufgenommen worden zu sein. Ich habe diese Ehre nie angestrebt, ich hätte sie nie erträumt.