Radka Denemarková

Writer and Translator
Born 14/3/1968
Member since 2023

Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Mitglieder der Akademie, liebe Freundinnen und Freunde der Literatur,

Dass man älter wird, erkennt man unter anderem daran, dass man die Ehrendoktortitel und Angebote für politische Kandidaturen erhält oder in die Akademien aufgenommen wird. Über die Nachricht der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung habe ich mich sehr gefreut; Zeit ist das Wertvollste, was wir haben, und ich möchte meine Zeit mit Menschen verbringen, die ich respektiere und an einem Ort, wo unsere Arbeit Sinn hat. Es ist für mich große Freude, hier heute mit Ihnen zu sein. Es hat doch im Grunde niemand einen rechten Begriff von der Schwierigkeit der Kunst als der Künstler selbst. Ich denke immer in diesem Zusammenhang an Goethe. Für ihn waren die Künstler wie »Sonntagskinder«: nur sie sehen Gespenster. Wenn sie aber ihre Erscheinung erzählt haben, so sieht sie jedermann.

Ich stamme aus Prag. An der Karlsuniversität promovierte ich über die semiotische Problematik von Dramatisierungen, einer Arbeit auf dem Gebiet der historischen Literatur- und Theaterwissenschaft, ich arbeitete am Institut für Literatur der Akademie der Wissenschaften, gleichzeitig war ich Dramaturgin am Prager Divadlo na zábradlí (Theater am Geländer), wo in den 60er Jahren Václav Havel seine ersten Theaterstücke geschrieben hat. (Übrigens: Havel hat in diesem Theater ursprünglich als junger Beleuchter gearbeitet. Ich habe noch einige von den damaligen Bühnentechnikern kennengelernt, sie erinnerten sich daran, welch große Erleichterung es für alle Bühnentechniker damals war, dass Havel mit dem Schreiben begann, weil ihrer Meinung nach Havel als der schlechteste Beleuchter der Welt galt; manchmal konnte er während der Theatervorstellung nicht einmal die Schauspieler auf der Bühne finden.)

Seit 2004 bin ich als Schriftstellerin, Übersetzerin und Essayistin freiberuflich tätig. Mit meiner Literatur bemühe ich mich »Skelette im Schrank« nicht nur im mitteleropäischen Raum durchzuleuchten; ich bin nicht Arzt, ich bin Schmerz. Die tscheschische Sprache spricht über »Skelette im Schrank«, die deutsche über »Leichen im Keller«. Meine tiefe Beziehung zu der deutschen Sprache begann in der Kindheit. Wir hatten in der Schule nur Russisch und mein Vater wollte, dass ich und mein Bruder auch Deutsch und Englisch beherrschen. Also hat er unter Bekannten zwei ältere Frauen angesprochen und den privaten Unterricht organisiert. Als Kinder haben wir die Frau, die Englisch unterrichtet hat, fast gehasst; sie war eiskalt, ungerecht, ensthaft, hart. Die Dame, die uns Deutsch beigebracht hat, habe ich gemocht; sie war warmherzig, klug, sensibel, humorvoll. Ich war mit ihr dann das ganze Leben befreundet. Wir haben vor allem gelesen, für mich war die deutsche Sprache lange Zeit eine starke Stimme der Literatur und Philosophie. Ich denke heute mit Dankbarkeit auch an diese großzügige, belesene Dame.

Ja, ich stamme aus Prag und Prag war einst eine Stadt dreier Nationalitäten, eine polemische Stadt, das war auch Thema von Max Brod, Freund von Franz Kafka. Sein Verhältnis zum Deutschtum formulierte er für sich als kulturelle Zugehörigkeit, schließlich war er innerhalb der deutschen Kultur erzogen worden. Er nannte diese Verbindung »Distanzliebe«. Sein Leben lang beschäftigte er sich mit der Frage, mit der ich mich auch oft beschäftige, was er eigentlich sei. Österreicher? Auch viele Tschechen waren doch stolze Österreicher der Habsburger Monarchie. Tscheche? Nein. Deutscher aus Böhmen? Prager Deutscher? Eines war ihm und ist uns bis heute klar: Die Literatur soll entgegen jeder Erniedrigung der Menschenwürde stehen, sie kann zeigen und bestätigen, dass es unzählige Wahrnehmungsmöglichkeiten gibt, Wörter, mit denen wir denken, »abwaschen« und die wir anders verwenden können, dass wir anders leben können, dass schöpferische Freiheit grenzenlos ist. Für mein Leben ist die Literatur die Gesamtheit aller Formen der Tapferkeit, der Kunst, der Liebe, der Freundschaft und des Denkens, die dem Menschen erlauben, weniger Sklave zu sein. Und die Literatur so zu leben, ist die reinste Form der Liebe. Einen Roman zu schreiben ist wie den Mount Everest zu besteigen. Oder den Ärmelkanal zu durchschwimmen. Satz für Satz, Tag für Tag die Lampe hin und her zu tragen. Schreibend führen wir einen Dialog mit der Welt.

Übrigens, mein Spitzname ist Prager Schwalbe. Ich wurde während des Prager Frühlings 68 geboren. Auch im Jahr 2024 erlebe ich einen Frühling der Schwalben, die niemand auf der Welt wahrnimmt, weil sie hier sind, und wenn sie gerade nicht hier sind, kehren sie wieder zurück. Sie wissen, wann es Zeit ist, dass heimatliche Nest zu verlassen und sie wissen, wann es Zeit ist ins heimatliche Nest zurückzukehren. Hier läuft niemand vor sich weg. Sie führen ein eigenes, im Großen und Ganzen unabhängiges Leben. Die Schwalben sprechen nur in ihren Bewegungen, und sagen, dass keine Grenzen existieren. Es existieren keine Staaten und es existieren keine Nationalitäten und es existieren keine Religionen und es existieren keine übergeordneten Geschlechter. Der Ruf nach moderner Freiheit.

In vielen Ländern erlaubt man zur Zeit nur den loaylen Literaten zu arbeiten, nicht den unabhängigen. Deshalb kann ich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung so schätzen. Der künstlerische Ruf nach moderner Freiheit endet nie, er ist nämlich nichts Selbstverständliches. Projekte wie sie die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verfolgt, geben mir auch Antwort auf die Frage, warum der Mensch sich eigentlich bemüht, verantwortlich zu handeln.

Ich war zwei Jahre lang in China, wo ich den Roman Stunden aus Blei geschrieben habe, was zu einem lebenslangen Einreiseverbot führte und wo sich das Schlimmste des Kapitalismus und das Schlimmste des Kommunismus »geküsst« haben und wo die Wirtschaft beständig wächst – aber ohne Menschenrechte. Nicht nur China zeigt, dass Kapitalismus und Totalitarismus einander nicht ausschließen, sondern eine eigentümlich perfekte Symbiose eingehen können. Hier grenzenloses Wachstum, dort grenzenlose Überwachung – und die Freiheit gerät unter alle Räder. Ja, dazu passt, dass vielen Menschen heute das chinesische Modell imponiert: Ein wirtschaftlich erfolgreicher Polizeistaat, der Wohlstand verspricht. Die Macht verrät heute unabsichtlich wieder ihre ureigenste Intention: Das Leben total gleichförmig zu machen, alles nur ein wenig Unabhängige Abweichende, Eigenwillige oder nicht Einzuordnende herauszuoperieren, zu entfernen.

Aber man muss seinen eigenen Weg gehen. Als in Berlin meine Freundin in eine neue Wohnung zog, ging sie in einen Blumenladen. »Und woher kommen Sie? Aus Frankreich?« – »Nein, aus Rumänien«, – »Ach so, machen Sie sich nichts daraus.« Ich erlebe dieselben Reaktionen. »Und woher kommen Sie?« – »Aus Osteuropa? Ach so, machen Sie sich nichts daraus.« Ein solches Sortieren von Menschen und Völkern bringen die Erwachsenen den Kindern zuhause und in der Schule bei, dieser Teufelskreis kann nicht durchbrochen werden. Es liegt in der Natur des Menschen, dass er seine Weltwahrnehmung als die einzig mögliche und richtige sieht. Die Begriffe »kollektive Schuld« und »kollektiver Sieg« sind monströs. Und der Nationalismus nimmt heute noch monströsere Formen an, weil er nur die eine Frage ausspuckt: »Und woher kommen Sie?« Stellen wir uns eine andere, wichtigere Frage: »Wer sind wir?« Es geht nur darum, durchzuhalten. Es ist doch immer im Geiste der Lebensphilosophie von Václav Havel so: das Maß unserer provokativen Hoffnung ist das Maß unserer Fähigkeit, uns um etwas zu bemühen, weil es moralisch ist, und nicht nur, weil es garantiert Erfolg hat.

Literatur ist spezifische Kunst. Diese Art von authentischem, unsentimentalem Humanismus ist heute von großer Bedeutung. Da leben auch die Begriffe wie Vertrauen, Kreativität, Mitgefühl, Barmherzigkeit. Was in der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft ansonsten fast als Selbstmord betrachtet wird. Eine Oase der Moral, die sich aus der Tatsache ergibt, dass wir am Leben sind und diesen Planeten mit anderen teilen.

Ich möchte mich bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtungbedanken. Wir brauchen jetzt kühle Köpfe, einen klaren Verstand, kreatives Denken und den Schutz der Menschenrechte, denn wo das Geld spricht, schweigt die Wahrheit. Und die Wahrheit ist in dieser Zeit so sehr verdunkelt und die Lüge so weit verbreitet, dass man die Wahrheit nicht erkennen kann, wenn man sie nicht liebt. Aber die Wahrheit, die Demokratie und die Menschenrechte sind das Kostbarste, was wir haben. Ja, schließlich gibt es wirklich nur eine einzige Grenze: die Grenze zwischen einem Menschen und dem anderen. Ich drücke uns allen die Daumen. Wir machen einfach weiter. Danke.

P. S. Heute Morgen habe ich mit meinen Kindern telefoniert, die ich alleine großgezogen habe und die sich heute auch sehr freuen. Ich soll Ihnen von meinem Sohn ausrichten: »Sie ist kompliziert, aber es lohnt sich.«