Ulrich Peltzer

Writer
Born 9/12/1956
Member since 2015

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Mitglieder der Akademie,

angestrengtes Nachdenken half nicht weiter, auch nicht, den Begriff: ›Gedicht‹, die Worte: ›kein Kind von Traurigkeit‹ bei Google einzugeben – das, wonach ich suchte, war nicht zu finden. Ein Gedicht, eine Art Gedicht, soweit ich mich erinnerte, in dem sich jemand vorstellt. Oder sich selbst beschreibt. Gerade eben – vielleicht, weil ich heute Morgen, 11.10. 2015, ein Interview mit ihm gelesen hatte – kam es mir wieder zu Bewusstsein, ein Stück aus Peter Handkes Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, das die Überschrift trägt: »Was ich nicht bin, nicht habe, nicht möchte – und was ich möchte, was ich habe und was ich bin.« Dort heißt es im erstem Abschnitt: „Was ich NICHT bin:/ Ich bin kein Spielverderber/ Ich bin kein Kostverächter/ Ich bin kein Kind von Traurigkeit.“
Nun ging es Handke hier natürlich um die Phraseologie solcher, meist unerbetener, Selbstauskünfte, wie ein Großteil des Buches, ein Taschenbuch, dessen 5. Auflage von 1972 ich mir als Sekundaner gekauft haben werde, sich mit jenem Sprachmaterial beschäftigt, aus dem die Welt, die Außenwelt, in ihrer buchstäblichen Medialität (und oft Banalität) zusammengesetzt ist, gedruckt, im Fernsehen, im Dunkel eines Kinosaals.
Ich muss gar nicht auf die An- und Unterstreichungen schauen, um mir ins Gedächtnis zu rufen, welche Bedeutung diese Textsammlung im Detail für mich hatte, wobei die Faszination mindestens ebenso sehr ihrem Titel geschuldet war. Etwas über die Innenwelt zu erfahren, indem man ihr Äußeres erkundet, das auf ein zweites, anderes Innen verweist, das mit dem ersten irgendwie verwandt, aber wohl nicht identisch ist – das kam mir, hatte man sich erst einmal auf diese Form der Verwicklung eingelassen, ziemlich plausibel vor, und, darüber hinaus, deutete auf Beziehungen hin, auf ein besonderes Verhältnis, das mich damals enorm interessierte.
Wie es mich heute noch interessiert, wahrscheinlich lässt sich auch die Entscheidung, Psychologie zu studieren, und eben nicht Germanistik oder Geschichte, darauf zurückführen: zu untersuchen, wie der Weltzugang des Einzelnen, menschliches Verhalten und Denken, bestimmt wird durch soziale Regeln, durch Codes, die auf vielerlei Ebenen wirksam sind. Nicht zuletzt auf der Ebene der Sprache, deren Grenzen zugleich die Grenzen jeglicher Erfahrungsmöglichkeit markieren. Nach außen und nach innen, inwiefern es galt, sei es in einer Therapie, sei es in einem theoretischen Diskurs, sie zu erweitern, zu öffnen auf bislang dem Bewusstsein nicht verfügbares Terrain hin. Dass ein neues Wort eine neue Welt bedeuten kann, wie es Allen Ginsberg einmal ausgedrückt hat, nicht als erster und nicht als einziger, schien mir programmatisch zu sein bei allen Versuchen, die Dinge besser zu verstehen, indem man sie zum Sprechen, zu einem neuen, einem veränderten Sprechen bringt.
Wobei sich Wissenschaft und Literatur nicht immer trennscharf unterscheiden ließen (und lassen), zumindest nicht in meinem Fall – was ich etwa Norbert Elias’ Über den Prozeß der Zivilisation an Erkenntnisgewinn verdanke, um nur ein Buch aus dem Bereich der Wissenschaft zu nennen, ist weder aufzurechnen noch in eine Rangfolge zu stellen mit diesem oder jenem literarischem Werk, sagen wir, Gedichten von Wallace Stevens oder Uwe Johnsons Mutmaßungen – als nicht aufzulösende Durchdringungen und Einflussnahmen, die mein Bild und, wenn man so will, meine ganz eigene Grammatik der Welt, von Welt, modellieren; psychischer Apparat, der nicht zu denken und zu begreifen ist ohne die Gegenstände und Ideen, die von außen unaufhörlich an ihn herangetragen werden; wie umgekehrt, die Welt als Möglichkeitsform meiner Wahrnehmung und Affekte.
Was mir dabei immer schwer fiel, und immer schwerer fällt, war, eine Systematik zu finden, geordnet von A nach Z vorzugehen, mein Wissen gleicht eher einem selbst genähten Flickenteppich als ein feines, um nicht zu sagen, universitär gewirktes Tuch zu sein – womit zu leben ich jedoch gelernt habe – glaube ich wenigstens. Oder ich bild’s mir nur ein. Auch egal. Wie man am Niederrhein floskelhaft nachschiebt, wenn etwas nicht genau zu entscheiden ist. Im Vagen bleibt oder bleiben muss. Schulterzucken. Wird schon werden, beziehungsweise, kann man eh nichts dran machen. Sprüche, die ich als in Krefeld, Niederrhein, Heranwachsender nicht ertragen konnte, inzwischen habe ich mich mit meiner Herkunft, deren Macken und Marotten, aber ausgesöhnt, scheint mir. Vollumfänglich. Auch so ein Wort, plötzlich aus den Untiefen der Gedankenlosigkeit an die Oberfläche gedrungen. Was willste machen? Da kannste nix machen.
Ja, manches ist, auf Teufel komm raus, einfach nicht zu ändern. Oder nicht mehr. Oder man hat sich damit abgefunden, mit bestimmten Eigenschaften, Spleens, Glaubensgrundsätzen und Haltungen, die einem in der Kindheit eingepflanzt worden sind. Was man darf und nicht, worin Sünden bestehen, wie man sich ihrer wieder entledigt. Das vor allem – wovon ich Ihnen als ehemaliger Ministrant ein Lied singen könnte. Besser aber nicht. Ich befürchte, ich bin kein so guter Sänger. Und ein Kind von Traurigkeit? Das ist nicht leicht zu beantworten, und nicht nur, weil die Verneinung eine schreckliche Phrase wäre.
Ich danke Ihnen sehr herzlich, dass sie mich bei sich aufgenommen haben, Mitglied dieser Akademie zu sein, ist eine Ehre, die mir wahrhaftig viel bedeutet.