Zsuzsanna Gahse

Writer and Translator
Born 27/6/1947
Member since 2011

Johann-Heinrich-Voß-Preis

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren,
vor ungefähr drei Jahren fragte mich Peter Esterhazy, ob ich das Buch, an dem er damals arbeitete, übersetzen wurde, und ich sagte sofort zu. Das Thema interessierte mich, und auch zeitlich stand nichts im Weg. Bald darauf bekam ich das fertige Werk mit dem Titel Kornel Esti überreicht, ich las etwa zwanzig Seiten, und dann... dann habe ich mein Versprechen gebrochen und die Übersetzung abgelehnt. Ich musste sie ablehnen, weil mir das Gelesene zu sehr gefiel, anders gesagt, weil es mir zu nahe stand. Esterhazys wunderbarer Nichtroman mit dem Untertitel Siebenundsiebzig Geschichten hatte eine erschreckende Ähnlichkeit mit dem, was ich schreiben wollte. Hatte ich sein Buch übersetzt, wäre ich mit dem eigenen Projekt auf der Strecke geblieben. Dabei lagen die Ähnlichkeiten nicht am Inhalt, sondern an den Strukturen. Strukturen allerdings spielen beileibe keine Nebenrolle.
Unabhängig von Peter Esterhazy hatte ich 2008 in meinen Dresdner Vorlesungen ‚öffentlich‘ versprochen, mich auf Erzählinseln zu konzentrieren. Erzählinseln sind für mich kurze oder etwas längere Geschichten, die sich aus ihrem Umfeld vorwölben, sich abheben, sich in ihrer Intensität vom übrigen Text unterscheiden. Das Übrige, das Umfeld selbst, kann essayistisch sein, einem Gedicht ähneln, monologisch murmeln, Hauptsache, alle einzelnen Textteile haben Luft in den Gliedern und pappen nicht zusammen, rennen einem roten Faden nicht hinterher. Die Absage an den roten Faden und die einzelnen unabhängigen Passagen in Esterhazys Kornel Esti waren sogar optisch auf Anhieb zu erkennen. Er hatte mich sozusagen vor-kopiert.
Schon, ich übersetzte nicht, von den zwanzig gelesenen Seiten war ich trotzdem bereits infiziert, und ich verstummte für einige Wochen. Dann schüttelte ich den Herrn Esterhazy ab, schüttelte meine eigenen Skizzen durch, eine Weile schrieb ich den Grundlagentext für eine Commedia dell’arte, ein Canvas, das immerhin ebenfalls aus offenen Strukturen besteht, und letztes Jahr setzte ich mich endlich wieder an mein Buch. An das Sud sudelbuch, das jetzt fertig ist.
Für dieses Sudsudelbuch, für die eigenen Überlegungen, habe ich trotzdem übersetzt, weil manche Wörter und Wendungen in anderen Sprachen Besonderheiten erzählen, und was solche Wörter und Wendungen sagen wollen, kann und soll man in die deutsche Vorstellung herüberretten. So zum Beispiel fallt einem meiner Protagonisten auf, was atmen auf Ungarisch besagt. Nämlich seelen. Das ist im Ungarischen beinahe eindeutig zu erkennen. Man sagt seelen, ohne an die Seele zu denken, wenn man von der Atmung spricht. Wie auch niemand an das Auswickeln denkt, wenn er das deutsche Wort Entwicklung sagt, aber eine Entwicklung ist eindeutig eine Auswicklung. Was man alles sagt und bestenfalls im hintersten Hinterkopf denkt! Im Hinterkopf schon, da der Sinn einzelner Ausdrucksweisen dort etwas bewirkt. Dort entfalten die Wörter ihren Nebensinn, den entfalten sie und beeinflussen damit den sogenannten Hauptsinn.
Vergleichbare Herübersetzungen, Herüberrettungen tauchen im Sudsudelbuch auch aus dem Spanischen auf oder mal aus dem Englischen, und ich schiele auch zu Sprachen hinüber, die ich kaum kenne.
Hier ein Einschub, da Heinrich Detering am Donnerstag in seinen Abschiedssätzen Ivan Nagel zitiert hat, für den das ungarische Wort für Weizen – buza – sofort sichtbar gewesen sei, das entsprechende deutsche Wort aber nicht. Wenn ich meinerseits das ungarische Wort rozsa höre (Sie werden es erraten, rozsa ist die Rose), rieche ich diese Blume, das deutsche Wort hingegen ist lediglich eine korrekte Bezeichnung. Aber: Wenn ich das deutsche Wort ‚Freesien‘ höre, rieche ich die Blume. Das ähnliche ungarische Wort ist eine bloße Behauptung. Je nachdem, in welchem Alter und mit welchem emotionalen Hintergrund jemand einen Ausdruck kennenlernt, ist er später von dem Wort berührt, betroffen. Ganz gleich, um welche Sprache es geht. Diese Bemerkung ist mein Abschiedsgrus an den wunderbaren Ivan Nagel.
Stehengeblieben bin ich vorhin bei dem Wortsinn, der Worterzählung. Zwar denke ich deutsch, aber es ist anregend, andere Sprachmöglichkeiten zu sehen und sie auf Deutsch weiterzudenken. Seit einer Weile meine ich außerdem, dass ohnehin jedes Wort eine Übersetzung ist.
Wenn jemand von einer flachen Küstenlandschaft erzählt, konnte er ebenso gut von der großen Ebene am Meer reden. Zunächst hat er ein Bild vor Augen, dann sucht er die passenden Wörter, für die er fast immer unterschiedliche Möglichkeiten hat, so dass er auswählen kann. Und dieses Auswählen ist ein Übersetzen. Er übersetzt ein Bild, eine Idee in die Sprache. Es fragt sich nur, was das Original ist. Wahrscheinlich das Bild, die Idee selbst.
Anfang der 1980er Jahre hatte mich Helmut Heißenbüttel um eine Rundfunksendung gebeten. Die Aufgabe war, ausführlich über die Gegenwartsliteratur in Ungarn zu berichten. Damals kannte ich nur Klassiker der ungarischen Literatur, wie sie mir meine Eltern vermittelt hatten, meine klugen und witzigen Eltern, wie ich anfügen muss. Bei der Flucht (als ich von den Eltern geflohen wurde), als ich die allgemeine ungarische Literaturlandschaft verlies, war ich ein Kind, bald darauf war ich in jeder Hinsicht, sowohl von den persönlichen Erfahrungen als auch von der Literatur her, deutsch sozialisiert.
Übrigens lebte ich in den 1980er Jahren in Stuttgart, war ich in Stuttgart ansässig, um die schone Wendung von Richard Swartz zu übernehmen. Die Vorbereitungszeit für die Sendung, für den Suddeutschen Rundfunk, war interessant. Ich habe Autoren kennengelernt (Esterhazy, Nadas, Miklos Meszoly), habe kleine Texte, Textteile übersetzt, und als die Arbeit fertig war, war Heißenbüttel von den Autoren hingerissen. Mir aber erklärte er, dass er mich um die Sendung nur gebeten hatte, weil Hannah Arendt gesagt habe, dass die ureigene Logik eines jeden mit der eigenen Muttersprache zusammenhänge, und daher wollte er, dass ich zu dieser Logik zurückkehre.
Dass, dass, dass!
Diesem bemerkenswerten Satz bin ich bei Hannah Arendt bisher nicht begegnet. Vielleicht stammt er von Heißenbüttel selbst, was zu seinem Witz passen wurde, der Satz selbst hat ja seinen Witz. An die Aussage selbst glaube ich nicht, und mir wäre es lieber, wenn sich in meinem Kopf unterschiedliche Sprachen mit ihrer jeweiligen Logik unterhalten konnten. Das ist eine Momentaufnahme der letzten Jahre, Jahrzehnte. Ich freue mich, mitsamt meinen Erzählinseln ein Mitglied der Akademie zu sein, und danke.