Friedrich Dieckmann

Writer
Born 25/5/1937
Member since 1995

Johann-Heinrich-Merck-Preis

Ich befinde mich nun schon in dem dritten deutschen Staat meines Lebens; damit habe ich meine Eltern fast eingeholt, die es im Lauf der Zeit auf vier sich jeweils antithetisch voneinander abstoßende deutsche Staaten brachten. Der erste deutsche Staat, der mir vorkam, tat dies in Dresden, vom Tag der Wehrmacht und den Radio-Fanfaren der Siegesmeldungen bis zur Zerstörung der Stadt in einer Aschermittwochsnacht. Mein erster Lehrer in der Striesener Silbermannschule hieß Teubner und war ein kluger und fühlsamer Mann; den zweiten Lehrer, der ein Prügelfetischist war, nannten wir Ärschel. Seine Lehrzeit wurde dadurch verkürzt, daß die Schule in den Flammen der Bombennacht aufging. Ich habe keinen meiner ersten Schulkameraden wiedergesehen.

Als ich in den zweiten deutschen Staat meines Lebens eintrat, war ich aus einem jugendlichen Kriegsteilnehmer, der in der Schulaula mit glockenheller Stimme Ich hatt einen Kameraden sang, zu einem überzeugten Demokraten geworden, der im zarten Alter von neun Jahren (in Sachsen gab es damals Landtagswahlen) liberaldemokratische Wahlplakate entworfen hatte und hernach in den engen Räumen des Sächsischen Landtags (dort residiert heute das Goethe-Institut) eine Block-Demokratie wahrnahm, die noch nicht monolithisch verschweißt war. Am Gartenzaun des Hauses, in dem wir nach der Ausbombung eine verwandtschaftliche Zuflucht gefunden hatten, hatte im Juni 1945 ein Schild »Demokratische Partei Deutschlands« gehangen; einige Monate später kam der Graphiker Pohl (er war, wie ich Jahrzehnte später entdeckte, ein berühmter Mann der zwanziger Jahre) und legte im Garten zwei Versionen eines Plakates vor, das für Blockpolitik werben sollte. Das eine Blatt – beide waren in parteineutralem Grün gehalten – zeigte einen von Strichen vierfach gegliederten Kubus, das andere ein von vier Säulen getragenes Gebälk; da es vier Säulen waren, muß sich das vor Gründung der SED zugetragen haben. Graphisch wirkungsvoller war die Massiv-Variante, ich gab aber dem Säulenbild den Vorzug; gedruckt wurde keins der Blätter. Als LDP-Emblem hatte derselbe Meister eine aufgehende Sonne gezeichnet, in deren Strahlen ein D schwebte, das für Deutschland und Demokratie stand. Es war eine hoffnungsvolle Hungerzeit.

Alles dies hing mit einem Elternhaus zusammen, das, politisch von der Stresemannschen DVP herkommend, national-liberal und christlich-protestantisch war; hinzu kam, von den beiden großelterlichen Pfarrhäusern her, ein entschieden sozialer Sinn. Außerdem war es ein musikfreudiges Elternhaus; ehe ich das erste Mal in Tannhäuser ging (das war 1949 und ein umwerfendes Erlebnis), spielte mir mein Vater die Oper am Klavier vor. Als es ihn bei der Gründung des zweiten deutschen Staates, der mir begegnete, nach Berlin verschlug (er wurde Parlamentspräsident, und meine Mutter, die es mit mir am Radio vernahm, brach, den Abschied von Dresden ahnend, in Tränen aus), galt es, die Stadt, in deren Ruinen ich Fußball gespielt und in deren Sälen ich das Theater, vor allem: die Oper, kennengelernt hatte, hinter mir zu lassen; ich bin aber oft wiedergekommen.

Der neue Wohnort lag im Norden Berlins und bedeutete einerseits Schulbesuch in einer grauen märkischen Kleinstadt, andererseits die S-Bahn-Nähe der gevierteilten Kulturmetropole. Es hieß Brecht und Felsenstein, Furtwängler und Kleiber, Langhoff und Kortner und vieles andere mehr. Einerseits ein überströmender Kulturreichtum, andererseits eine Oberschule, die, trotz vieler guter alter und neuer Lehrer, zunehmend unter den Druck der SED-Politik geriet – der Kontrast war beträchtlich. Ich erinnere mich an einen Disput mit Margot Feist, nachmals Honecker, die im Frühjahr 1953 erschien, um in einer Schulversammlung den aggressiven Kurs ihrer Partei durchzusetzen; für die Verklärung der fünfziger Jahre besteht auf keiner Seite ein Anlaß. Mit Buddenbrooks begann 1952 eine Thomas-Mann-Lektüre, die so bald nicht aufhörte; die von dem Autor beförderten Raubdrucke, die Walter Janka im Aufbau-Verlag veranstaltete, gaben die Möglichkeit dazu. 1955 sah und hörte ich den Achtzigjährigen bei seiner Ehrenpromotion in Weimar.

Nach dem Abitur ging es zum Studium nach Leipzig, wo nicht das Theater, aber die Musik blühte; Ernst Bloch entzog mich dem Studium der Germanistik. Ich hatte ihm nach einem fulminanten Vortrag, den er im Oktober 1955 im neuerbauten Anatomischen Hörsaal über Wahrheit, Freiheit, Universität hielt, einen Brief geschrieben und war danach zu einem Gespräch eingeladen worden. Auf einmal schien etwas möglich zu sein, dessen Unmöglichkeit mir als Fazit der Oberschulzeit vor Augen gestanden hatte; das Thema jenes Vortrags umriß es. Mit Recht kam sich Bloch nachmals wie der Reiter über den Bodensee vor.

Nach seiner Lehramts-Verstoßung: Zuflucht bei den Naturwissenschaften, der Sphäre begrenzter Gewißheiten; dann der Sprung ins freischaffende Autoren-Dasein, in dessen erster Phase mir ein Dresdner Kulturredakteur hilfreich war, der am Sächsischen Tageblatt seinem eigenen Gusto folgte. Es wäre lohnend, den Weg dieses ruhig-freundwilligen, zarten und beharrlichen Mannes durch die Zeiten zu beschreiben, einen Weg, in dem sich alle ihre Sprünge als Einschnitte abzeichneten: 1973 Berufung zum Cheflektor eines Berliner Verlags; wortlos-unbegründete Absetzung 1978; nach einer Zeit selbstgewählter Arbeitslosigkeit neuer, sinnvoller Wirkungskreis in einem Leipziger Verlag; nach der DDR-Revolution Wahl zum Leiter dieses Verlags; zwei Jahre später Absetzung durch die neuen Westbesitzer wegen kritischer Äußerungen; danach Leiter eines Berliner Verlags in Treuhand-Verwaltung; nach dessen Liquidation anhaltende Arbeitslosigkeit.

So ist es zwischen 1970 und 1995 Heinfried Henniger ergangen, der in Dresden meine ersten Kritiken druckte. Als die Texte, aus gegebenem Anlaß, immer länger wurden, schickte ich einen davon an die Zeitschrift Sinn und Form, die ihn tatsächlich druckte; anderes folgte. Wilhelm Girnus, der Chefredakteur dieser Blätter für Literatur, hatte als politischer Häftling zehn Jahre in Nazi-Zuchthäusern und Konzentrationslagern zugebracht; Georg Knepler, der Musikologe, von dem Girnus meine Einsendung begutachten ließ, hatte die Hitlerzeit im Londoner Exil verbracht; Karl von Appen, der Chefbühnenbildner des Berliner Ensembles, der mich 1966 als Monographen seiner Berliner Theaterarbeit an sich zog, war fünf Jahre in einem Konzentrationslager gewesen. Philosophie ging nur ganz schwer in der DDR, Jürgen Teller oder Gerd Irrlitz konnten ein Lied davon singen, anders das Theater, das es auch nicht leicht hatte; es nahm, wie im Metternichschen Österreich, dem die DDR zunehmend ähnlich sah, gleichsam die Stelle der Philosophie ein. Das Theater in Berlin-Mitte war bis zum Ende der sechziger Jahre (dann übernahm, in Westdeutschland und in Frankreich, eine junge Generation den Stab) wahrscheinlich das beste der Welt.

Als ich mein Buch über Karl von Appens Bühnenbilder am Berliner Ensemble 1968 fertig hatte, war es, zur Beunruhigung der Fach-Instanzen, auch ein Buch über Brecht geworden. Die Regierung mußte wechseln, ehe es gedruckt werden konnte; es wurde, mit einer gravierenden Ausnahme in Rischbieters Theater heute, in Ost und West mit Schweigen übergangen, was die zweite Auflage begünstigte. Die Folge war ein Dramaturgen-Engagement ans Berliner Ensemble, in dessen Bühnenbild-Atelier ich schon lange aus und ein gegangen war; unter Ruth Berghaus, der neuen Intendantin, begab sich in der – wie zum Ausgleich gravierender wirtschaftlicher Fehler – kulturpolitisch hoffnungsvollen Frühphase der Honecker-Ära eine spannende Pjerestroika. Ein Freund, Karl Mickel, hatte mich an das Theater gezogen, Sarah Kirsch verhalf mir als Bürgin zur Aufnahme in den Schriftstellerverband; mit beiden zusammen wurde ich anno ’72 in den PEN-Club gewählt. Im Zeichen deutsch-deutscher (das Doppelwort kam damals auf) Friedenspolitik waren die frühen siebziger Jahre, nach einer langen Repressionsphase, eine Zeit des Aufbruchs und der Belebung; am Berliner Ensemble endete sie im Frühjahr 1975 nach einer waghalsigen Strindberg-Inszenierung zweier anderer Freunde, B. K. Tragelehns und Einar Schleefs. In der Spielplanblockade, die danach eintrat, gelang es Appen und mir, Nestroy als Autor an diesem Theater einzuführen; am Tag nach der Premiere sagte ich einer Bühne Valet, an der sich das Scheitern von Erneuerung wie im Modellversuch abgespielt hatte.

Bestärkt durch meine Frau, die den Wechsel der Einkommensverhältnisse mittrug (die Rolle der Frau in der DDR-Literatur war in mehr als einer Hinsicht tragend), und indirekt begünstigt durch die niedrigen Mieten des Landes, wurde ich im Herbst 1976 wieder freischaffend und fand mich um eine wichtige Erfahrung reicher, die der Funktionsweise eines sozialistischen Betriebs. Rainer Kirsch, ein anderer Freund, ermutigte 1977 zu der ersten Essaysammlung, die im Aufbau-Verlag erschien; ein weiterer Band folgte bei Henschel. Zwar warf in der Druckerei jemand das Manuskript vor dem Setzen in den Reißwolf, dennoch gelang die Drucklegung. Zu den von Sinn und Form publizierten Texten kamen seit 1980 Veröffentlichungen in der NDL (ich begann dort mit Gedichten und habe es bis in neueste Zeit fortgesetzt) und im Merkur, wo damals Schwab-Felisch und Rutschky, später Bohrer und Scheel die Redaktion leiteten. Joachim Günthers Neue Deutsche Hefte im Westberliner Lankwitz druckten 1981 in zwei Teilen eine mir wichtige Studie über den Begriff des Kunstfortschritts, die Girnus’ Unbehagen erregt hatte. Auch diese Beziehung wurde zu einer anhaltenden.

Der Wandel der Zeiten traf mich mit einem fertigen Manuskript über Die Geschichte Don Giovannis. Die Degen-gegen-Stein-Konstellation, die hier durch die Zeiten hin anzusehen war, hatte ein aktuelles Gegenstück an Gorbatschows hartnäckigem Angehen wider den Koloß des Sowjetapparats, in dem viel zu spät jene Relation von Zentrum und Peripherie umschlug, dem 1968 der Prager Frühling zum Opfer gefallen war. Das Buch war im Aufbau-Verlag liegengeblieben, so kam ich 1990 zum Frankfurter (inzwischen: Frankfurt-Leipziger) Insel Verlag, der zuvor bereits mein Buch über Zauberflöten-Bilder akquiriert hatte; es war der Nachklang einer Erzählung, die ich 1982 über die Entstehung dieser Oper geschrieben hatte. Zuvor war ein Schubert-Buch liegengeblieben (ich bin gerade dabei, es zu Ende zu bringen) und eins über Wagner fertiggeworden; es hieß Richard Wagner in Venedig.

Die DDR-Revolution suspendierte die Operndinge. Sie traf mich an einem ebenso naheliegenden wie entlegenen und höchst anregenden Ort an, dem Wissenschaftskolleg in Berlin-Grunewald; der Eiertanz der Instanzen um die Genehmigung des Aufenthalts war wie ein Vorschein tieferer Lähmung gewesen. Das Wort Umbruch, bis dahin ein drucktechnischer Terminus, nahm nun einen bestimmteren Sinn an; merkwürdigerweise behielt das einst von Helmut Kohl in Anspruch genommene Wort Wende die Oberhand. Im Februar 1989 aus einer Versammlung heraus ins Präsidium gewählt, rückte ich mit Helga Königsdorf und Werner Liersch im Oktober ’89 den PEN-Verhältnissen der DDR zu Leibe; der Resolution, die wir durchbrachten (sie nahm das Maß des Künftigen vorweg), folgte der Rücktritt des Zentrumspräsidenten auf dem Fuße. Minderen Erfolg hatte ich mit dem Bemühen, den Schriftstellerverband für ein umstürzlerisches Bulletin zu gewinnen. Mit Gerd Irrlitz und Volker Braun gründete ich im November die Wochenschrift Die Woche, und Irrlitz bekam auch noch eine Lizenz; eine kleine Weile schien es, als könne Neues als Eigenes im alten Land entstehen.

Ein hinter der Wirklichkeit zurückbleibender Künstler-Aufruf von Ende November (er war Für unser Land überschrieben) gab Gelegenheit zu umfassender Diagnose; ich schrieb den Text, den Der Spiegel sofort annahm und nie druckte und die Wochenpost lange nicht annahm und dann sofort druckte, in der Nacht nach der Feier von Hans Bunges 70. Geburtstag. In den Zeitschriften, denen ich mich – und die ich mir – verbunden wußte, sodann in der Berliner Tageszeitung Neue Zeit, die mich anfangs vor allem als Theaterkritiker beschäftigte, und in den beiden großen Frankfurter Tageszeitungen erschienen Texte von mir aus dem und für den Wandel der deutschen Dinge; vieles davon ging zwischen 1991 und ’95 in drei Bände der edition suhrkamp ein, denen 1996 einer des Leipziger Kiepenheuer Verlags folgte. Die Buchtitel sind wie Markierungen auf dem Weg der deutschen Einheit und der ihr vorausgegangenen Umwälzung: Glockenläuten und offene Fragen, Vom Einbringen, Temperatursprung, Der Irrtum des Verschwindens. Vorangegangen war Anfang 1990 mein letztes DDR-Buch: Hilfsmittel wider die alternde Zeit.

Seit 1990 lebe ich wieder in jenem deutschen Staat, in den ich 1937 hineingeboren wurde. Er hieß, wie ich kürzlich festgestellt habe, ursprünglich Norddeutscher Bund; im September und Oktober 1990 ist er in einer Form wiedererstanden, der ich, trotz mancher früh kenntlich werdender Fehlsteuerung, hoffnungsvoll begegnet bin, nicht zuletzt in außenpolitischer Hinsicht. Es ist der dritte, den ich erlebe; vom Nationalsozialismus ging der Weg zum Feudalsozialismus und von diesem zum Liberalsozialismus, der gerade in die Krise kommt; wie das vereinigte, aber höchst uneinheitliche Land sie besteht, wird die Probe auf seine Existenzfähigkeit sein. Die Aussichten sind, mit meinem alten Leipziger Mathematikprofessor zu sprechen, uneindeutig; tröstlicherweise erhebt sich über dem Schritt der Notwendigkeit, der von der Erscheinung bestimmt ist, daß jeder vollständige Sieg eines politisch-gesellschaftlichen Prinzips der Anfang seines Niedergangs ist, jenes universelle Reservoir, in dem jedes Kulturzeitalter nach dem Stand der Gestirne, nach dem Maß seiner Kräfte das Seine niedergelegt hat. Es überwölbt die Zeitachse und mildert wenigstens potentiell jenen Furor des Verschwindens, der der exponentiellen Steilfahrt auf der Achterbahn des technologischen Fortschritts im Nacken sitzt. Die totale Profitgesellschaft, die noch das Unbewußte unter Renditeverhältnisse beugt, will den traumlosen Menschen erzwingen, der kein lebendiger Mensch mehr ist, aber sie wird auf Schwierigkeiten stoßen; die Zähigkeit der Kunst wird diese, hoffentlich, vermehren.