Writer
Member since 2022
Verehrte Akademie,
sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
auf der Suche nach einigen Fakten, Details, die die voralpine, hügelige Landschaft meiner Kindheit, jene in der Kalkformation des Alpsteins gelegene Gegend meines Herkommens betreffen, blätterte ich vor einigen Wochen in einer Schrift aus dem Jahr 1844, und las dort mit einigem Erstaunen, was ich noch nie gehört hatte, dass nämlich die Kapuziner, dieselben Kapuziner, die mich anderthalb Jahrhunderte später in Geographie und Mathematik unterrichten sollten, damals, im 19. Jahrhundert im Dorf meiner Kindheits- und Jugendjahre eine gewaltige Schneckenzucht betrieben hatten. Die Kapuziner, so las ich in einer Fußnote der Schrift, hätten für ihre eigene Tafel jährlich 40 bis 50 000 Schnecken gezüchtet, in Fässern hätten sie die Tiere außerdem vor Beginn der Fastenzeit in die Klöster von Schwaben, Baiern und Oesterreich bis Wien geschickt.
Obwohl ich die Schrift über meine Herkunftsgegend nur konsultiert hatte, weil ich hoffte, ihr zum Zwecke dieser Vorstellung heute Abend einige Einzelheiten zu entnehmen, Topographisches, Klimatisches, konnte ich nun die Schnecken nicht mehr vergessen, von denen ich zuvor nichts gewusst hatte, obwohl ich mich stets für die Geschichte des Dorfes und auch für die Kapuziner interessiert hatte, die das mit dem Gymnasium durch verschiedene Türen und versteckte Pforten verbundene Kloster noch immer bewohnten, als ich um die Jahrtausendwende selbst dort zur Schule ging, dieselben Kapuziner, bei denen ich als Achtjährige zum ersten Mal im Beichtstuhl gesessen hatte, den Beichtspiegel in der Hand, jenen Katalog der Verfehlungen, der zu meinem Erstaunen auch jene später nie vergessene Sünde aufzählte, die darin bestand, zu viele Heftchen gelesen zu haben.
Als Kind ging ich mit dem Vater in die Wälder, in die Pflanzschule, bei der Mutter lernte ich das ABC, ich half der Großmutter beim Vakuumieren der Würste, schaute mit den Serviertöchtern in den über der Wirtschaft meines Onkels gelegenen Zimmern fern, ich verbrachte die Tage an den Bächen, stieg über Findlinge, lungerte hinter Kapellen herum, schaute dem vaterseitigen Großvater dabei zu, wie er in seiner Wohnung an den Gleisen an seiner hölzernen Heimorgel baute. Mein Leben als Leserin aber begann, wenn man so will, mit den Heftchen, als ich circa 1991 auf der Rückbank des väterlichen VW Golfs meinen ersten Text, ein Lustiges Taschenbuch, entzifferte. Lange Zeit blieb ich danach dem Comic, den Sprechblasen und der Onomatopoesie verpflichtet, ich liebte die Heftchen, aber ich las sowieso alles, was mir in die Finger kam, den Schund und später auch das Schwierige, das man dort, wo ich herkomme, weitaus anrüchiger fand, als die Heftchen vom Kiosk, ich las das Schwierige, das schwer Verständliche, das Studierte, das die Studierten lasen, las Howl, Manifeste, Frankfurter Schule, las die Österreicher, Österreicherinnen, alles, was mich aus der Kalkformation des Alpsteins herauskatapultierte und mit der Welt verband, und die Heftchen, die Heftchen liebe ich im Grunde noch immer.
Später erst, als ich in der Zeit meines Studiums die Räume des Historischen Seminars wiederholt durch die Hintertür verließ, um mit den Quellen, den Exzerpten freien Umgang zu pflegen, begriff ich, dass Lesen und Schreiben sich als Geste, als Bewegung hin zu den Dingen nicht unterscheiden, dass ich als Schreiberin also auf immer Leserin würde bleiben können. Der Text als Vehikel, als Versprechen: Schreibend hoffte ich hinauszugehen, hinauszutreten, hinaus aus den eigenen kleinen Zimmern, die man so bewohnt, den einigermaßen beengten Quartieren des Ich. Ja, ich wünschte mir in einem gewissen Sinne stets, schreibend aus dem eigenen Körper zu fahren, ganz außer mir zu sein, mich immer wieder aufs Neue in die Welt zu schleudern, für die ich mich so brennend interessierte.
Dies ist in meinen Augen die Ekstase der Schreiberin: Satz für Satz entfernt sie sich von sich selbst, geht aus sich heraus, steht neben sich, erschüttert, erstaunt. Dabei bleibt sie stets Anfängerin, sie ist Expertin für gar nichts, hangelt sich von Stelle zu Stelle, ohne zu wissen, wo sie hingelangen wird.
Ich war heilfroh, als ich vor einigen Wochen, als ich mich auf diese Vorstellung meiner Person vorbereitete, so unerwartet auf die Schnecken der Kapuziner stieß, die Schnecken-Heerden, die den Ort meiner Kindheit einmal in gewaltiger Zahl bevölkert haben mussten und die mir nun die bekannte, vorgefasste Landschaft verwandelten in eine Fremde, noch nie Gesehene. Und meinte ich mich zu Beginn noch gegen diese Abzweigung oder Ablenkung wehren zu müssen, so glaubte ich Tage später plötzlich, es sei womöglich genau diese Leidenschaft für die Fußnote im historischen Dokument, für den Umweg, das Abwegige, dieein Licht auf meine Person werfe und meine Arbeit, meine Verfahren unter Umständen präziser beschreibe als alles, was ich sonst an dieser Stelle sagen könnte.
Ich freue mich, dass mich meine Wege, meine Exkurse und Verirrungen nun auch hierhergeführt haben – ich danke Ihnen ganz herzlich für die Zuwahl in diese Akademie.