Marcel Beyer

Writer
Born 23/11/1965
Member since 2009

Georg-Büchner-Preis

Während ich mich an einem diesigen römischen Vormittag in der Betrachtung einer Reihe beschrifteter Steintafeln verliere, die das Atrium der Basilika Santa Maria in Trastevere zieren, scheint es mir, als träfen zwei Spuren, denen ich in meinem bisherigen Leben gefolgt bin, zum erstenmal an einem Ort aufeinander. Mein Blick bleibt zunächst an den auf vielen Tafeln den Textzeilen beigegebenen Tier- und insbesondere Vogeldarstellungen haften, die meisten grob und skizzenhaft, mit schwerer Hand in den harten Stein geritzt, manche allerdings auch von erschreckender Beobachtungsgenauigkeit zeugend, lange vor Erfindung der Empirie: Hier breitet der Pelikan seine Flügel schützend über dem Nest aus, dort nähert sich Noahs Taube einem kahlen Baum wie aus dem Kinderalbum, hier hockt eine nur dank ihres Symbolgehalts identifizierbare Taube mit dem Ölzweig im Schnabel, dort aber gibt sich, in leichter Drauf-sicht, unzweifelhaft eine zarte Türkentaube zu erkennen. Eine Tafel führt zu meiner Überraschung die Antiqua als dynamische Handschrift mit Neigung vor: Als habe jemand rasch einen Gedanken notieren wollen, ehe ihm die im Kopf formulierten Sätze entfallen – um dann zu erleben, wie sich das zu Schreibende im Vorgang des Schreibens entwickelt. Eine Schrift, die nichts festhält, sondern eine Schrift, mit der sich etwas entfaltet. Bildlich – oder handfest – habe ich damit die eine Spur vor Augen: meine Aufmerksamkeit für das Zusammenwirken von Auge und Hand, von Werk-zeug und Trägermedium, von geistiger Bewegung und Widerständigkeit des Materials. Die zweite Spur führt durch verborgene, zumindest für das menschliche Auge unsichtbare Räume: die Räume der Imagination. Manche der an den Wänden versammelten Schrifttafeln können, sie dürfen nicht mehr als eine verstörende Ahnung davon geben, in welchen imaginären Räumen sich die Schreibenden aufgehalten haben: Mein Blick gleitet über Worte in lateinischer Sprache, notiert in griechischer Schrift, gleitet über lateinische Sätze, umrahmt, ja, im Zaum gehalten von einzelnen griechischen Wörtern, über Wortbastarde, als Zusammensetzungen aus lateinischen und griechischen Elementen erkennbar, ohne damit auch lesbar zu werden. Bei diesen vielleicht als kuriose Souvenirs aus entlegenen römischen Provinzen im Reisegepäck bis an den Tiber mitgeschleppten, auf Tauschbörsen rund um das Mittelmeer erstandenen, von Katakombenwänden abmontierten und aus den Trümmern der antiken Stadt zusammengekehrten Schriftzügen kann es sich nur um – womöglich zur Sicherheit in Fragmente zerlegte – Zaubersprüche handeln. Erratische Dokumente des festen Glaubens an die unmittelbare Wirkmacht des Wortes, und ihr Verschlüsselungsgrad ist derart hoch, ihr Einsatz muss auf derart eng eingegrenzte rituelle Situationen beschränkt gewesen sein, dass es in vielen Fällen bis heute nicht gelungen ist, einen buchstäblichen Sinn dieser Zeichenfolgen zu ergründen. Sei es, dass die Grenze zwischen dem Imaginären und dem Realen nicht so scharf gezogen war, wie es für uns selbstverständlich ist, sei es, dass Zauberworte wie »huat hauat huat, ista pista sista, dannabo dannaustra« Schlupflöcher darstellten, um von einer Sphäre in die andere zu gelangen – ich kenne zwar den Glauben an die Zauberformel nicht mehr, der Glaube an die Wirk-macht der Sprache aber ist mir geblieben. An Worte, die das menschliche Vorstellungsvermögen herausfordern, um Bereiche zu berühren, die jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens liegen. Im ersten christlichen epigraphischen Museum, das ich, ohne darum zu wissen, betreten habe, beginnen die Götter, mir ins Ohr zu flüstern: »Die Energie, mit der die Arbeit aufgenommen wird, kann sich aus Berührungsängsten speisen, in der Arbeit selbst jedoch haben Berührungsängste nichts zu suchen.« Meine Götter flüstern halbe, halb verständliche Sätze wie: »der Aufgabe, der einzigen Aufgabe des Künstlers entsprechend, alles in die Waagschale zu werfen, ganz gleich, wie wenig dieses Alles umfassen mag«. Bald reden meine heißgeliebten Götter, eben die Hörschwelle überwindend, von allen Seiten auf mich ein: »eingeschlossen das Risiko, über dem Schreiben jemand zu werden, den ich nicht kenne«, und einer von ihnen, Michel Leiris, spricht vom »tiefen Graben, der zwischen meiner Art liegt, mir die Welt vorzustellen, und meiner Art, mich in ihr zu bewegen«. An diesem Vormittag sehe ich die Schrift vor Augen und befinde mich zugleich in einer anderen Welt, während sich meine Umgebung zu einem Selbstporträt als Arrangement beschrifteter Steintafeln zusammenfügt. Mir ist, als hätte ich noch einmal jene kindliche Phantasiewelt betreten, in der ich sowohl leseunkundiger Entdecker als auch mächtiger Zauberer war, der die Geheimkräfte der Worte nach seinen Wünschen einsetzt – Alleinherrscher und Abenteurer in einem. Was ich als Kind nicht wusste, wovon ich nichts wissen konnte: Ich hielt mich, noch ohne schreiben zu können, in der Schreibwelt auf.