Franz H. Mautner

Germanist
Born 8/6/1902
Deceased 6/2/1995
Member since 1977

Friedrich-Gundolf-Preis

Herr Präsident, meine Damen und Herren,

als eine Kollegin in Swarthmore von meiner Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Akademie erfuhr, fragte sie mich teilnahmsvoll: »Wird Ihnen das nicht sehr viel Arbeit machen?« »Wieso?« »Nun, das Korrespondieren, die vielen Briefe!« Einen Moment war ich perplex, aber dann begann ich, über den Sinn dieser Bezeichnung nachzudenken. Vielleicht habe ich ihn entdeckt. Erlauben Sie, daß ich meine Lösung des Rätsels erst in einer Minute enthülle.

Es ist heute das dritte Mal, daß ich zu Ihnen sprechen darf: das erste Mal 1968, über den Aphorismus als eine literarische Gattung, das zweite Mal im Mai des vorigen Jahrs, als Sie mir den Gundolf-Preis verliehen und heute wieder, da Sie mich als korrespondierendes Mitglied in Ihre Mitte nehmen. So sind wir einander immer näher gerückt, und dadurch ist mir plötzlich eine mögliche Interpretation jenes »korrespondierend« aufgegangen: »korrespondierendes« Mitglied wird einer, dessen Gedanken und Überzeugungen mit den meisten der Ihrigen im großen ganzen korrespondieren, und von dem man erwartet, daß er als Mit-Glied des Corpus Akademie so halbwegs funktionieren kann.

Aber ich soll mich Ihnen ja vorstellen, in einer Ansprache, die, wie mir geschrieben wurde, nicht mehr als fünf Minuten dauern soll. Nun hat Herr Storz mich schon im vorigen Mai in seiner Laudatio sehr laudatorisch und daher zufriedenstellend, vorgestellt und Sie finden ja seine Rede und meinen Dank im diesjährigen Jahrbuch.* Wenn man also schon vorgestellt worden ist, kann man selbst zusätzlich nur die Vorstellung vollziehen, die man selbst von sich hat – eine fragwürdige Sache – und die außerdem womöglich den Zuhörer interessieren soll. Soll man da von Privatem reden, von dem, was einem selbst interessant erscheint? Bei der Überlegung darüber hat sich mir die Erinnerung an einen Gesprächsfetzen aufgedrängt, der mir vor vielen Jahren in der Wiener Straßenbahn zu Ohren gekommen ist. »Sie müssen nämlich wissen«, sagte ein älterer Passagier zu seinem Nachbarn, »ich bin ein interessanter Mensch – ich ess’ kein Gulasch.«

Auf die Provinz meiner Tätigkeit übertragen, was ist das Gulasch, das ich nicht vertrage? Es ist der literaturwissenschaftliche, alle paar Jahre wechselnde Jargon. Wenn ich zu denken, zu schreiben beginne, dann gerät mein Denken unweigerlich in das Denken in Wörtern hinein. Aus den Worten zu den Wörtern zurückzufinden, und die so gefundenen Wörter wieder meinen Worten dienstbar zu machen, ist mir ein Zwang: vielleicht ein Segen durch die Befruchtung des Denkens, vielleicht ein Fluch durch die Verlangsamung des Denkens und die Zweifel, die es dadurch erleidet. Dem Segen wie dem Fluch entgeht der Jargon ohne Schwierigkeit.

Ich hoffe, der Dignität des Anlasses nicht zu sehr Abbruch zu tun, wenn ich daran erinnere, daß es zwei Arten von Gulasch gibt: Rinds- und Kalbsgulasch. Das zweite Gulasch, das mein Behagen stört, außer dem Jargon, ist der mit ihm oft zusammen auftretende Glaube an eine allein selig machende literaturwissenschaftliche Methode. Sie macht, glaube ich, den Schreiber allein selig, aber nur wenige Leser. Ich glaube an Vielfalt der Methoden, auf deutsch von heute: »Methodenpluralismus«.

Mich vorstellen, das hat, wie gesagt, Herr Storz schon voriges Jahr getan. Darf ich nun mit der Eitelkeit des jungen Menschen, der ganz verstanden werden will, sagen, daß mir persönlich ebenso wichtig wie die Linie Aphorismus – Lichtenberg – Nestroy, die Herr Storz so wohlwollend nachgezeichnet hat, ganz anders geartete Themen meiner Arbeiten sind: Der im Woyzeck sichtbare Büchner, Mörike, Stifter. Die Balance zwischen Nestroy auf der einen Seite und Mörike auf der andern ist mir wichtig als Spannweite der deutschen Literatur, und auch im Leben, und ich sehe zutiefst keinen Gegensatz zwischen dem einen Denk- und Lebensstil und dem andern. Im Menschlichen ist diese Einheit kaum analysierbar, im Literarischen dient ihr die Gestaltungskraft der Sprache, für mich wesentlich als Merkmal des Begriffs »Literatur«.

Ich hoffe, daß Sie mich auch in diesem spezifischen Sinn als »korrespondierendes« Mitglied der Akademie betrachten werden.