Iryna Herasimovich

Translator and Essayist
Born 10/11/1978
Member since 2021

Sehr geehrte Mitglieder der Akademie,
sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kollegen und Freunde,

neben meinem Namen Iryna Herasimovich stehen oft verschiedene Berufsbezeichnungen: Kulturvermittlerin, Kuratorin, Essayistin usw. Am liebsten bin ich aber “nur” Übersetzerin und finde, dass diese Bezeichnung alle anderen mit einschließt.

Als Übersetzerin bin ich gleichzeitig in mehreren Realitäten: zeitlich, räumlich, sprachlich, vor allem aber zwischenmenschlich. Denn darum geht es mir in meiner Arbeit: um den Aufbau von einem Netz zwischenmenschlicher Beziehungen, die über Grenzen hinweg halten. Das ist es, woran ich glaube und was mir Zuversicht vermittelt, trotz all der Unsicherheiten und Schmerzen, die Beziehungen verursachen können. Ich beschäftige mich damit, was Hannah Arendt folgenderweise beschreibt: “Wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie”.

Meine Großmutter Feliksa Krasouskaya hätte sich niemals vorstellen können, dass ihre Enkelin einst bei der Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erzählen wird, dass sie ihre ersten drei Wörter auf Deutsch von ihr gelernt hat: Brot, Eier, verflucht. Das verweist ziemlich unmissverständlich auf den Kontext und die Sprecher: die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Beeindruckend, dass meine Großmutter, die im Krieg ihre ganze Familie verloren hatte, die Wörter aufbewahrte und weitergab, als Teil ihrer Geschichte, als Teil des Schmerzes, den sie mittrug. Ihren Schmerz kenne ich, seitdem ich mich denken kann. “Nebelkinder” - so werden in der Fachliteratur die Kinder und Enkelkinder von den Kriegsüberlebenden genannt, die für den Krieg nützliche, für die Friedenszeit hingegen völlig unbrauchbare Verhaltens- und Denkmuster erben. Wie im Nebel irren diese Menschen umher, die beiden Realitäten, die des Krieges und die der Friedenszeit existieren für sie gleichzeitig. So ein Nebelkind bin ich. Ich bin in Obhut einer Frau aufgewachsen, die die Knochen des eigenen Bruders von der Brandstätte einsammelte und in einer Kiste begrub. Da ist man wohl prädestiniert, stets auf der Suche nach den Antworten zu sein, wie so etwas möglich ist und wie das Leben danach überhaupt weitergehen kann. Als Kind vor dem Ofen des Dorfhauses sitzend habe ich mir vorgestellt, wie ein menschlicher Körper brennt. War das etwa der Anfang meiner übersetzerischen Haltung der Welt gegenüber? Dieser Versuch, eine unvorstellbare Wirklichkeit greifbar zu machen, das Verschlossene zu öffnen, die Grenzen verschiedener Realitäten durchlässig zu machen?

In demselben Ofen, vor dem ich als Kind saß, verbrannte ich 2021 in Angst vor einer Hausdurchsuchung Papiere, Notizhefte und Bücher, die ich auf diese Weise vor den Augen der vermummten Sicherheitsleute schützen wollte. Auch heute lebe ich in zwei Realitäten: In die Schweiz ausgereist, aber der Schreck über das derzeitige Leben in Belarus ist ein unabdingbarer Bestandteil meines Alltags. Nach inzwischen einem halben Jahr zucke ich nicht mehr zusammen, wenn ein Polizeiauto vorbeifährt, aber ständig begleitet mich das Wissen darum, zum Beispiel, dass meine beste Freundin ihre Sachen für den Fall ihrer Verhaftung gepackt hat. Wie so viele Bereiche des unabhängigen Schaffens wird die Kulturszene konsequent vernichtet. Ob das nächste Buch, das ich übersetze, in den Druck geht, ob der Verlag noch so lange existiert, bleibt offen. Dass ich zur alternativen belarussischen Kulturszene gehöre, die auch in besseren Zeiten ein Partisanendasein unter dem staatlichen System führte, wurde zum Teil durch die Sprache vorbestimmt, die ich von meinen Großeltern bekam: einen belarussischen Dialekt. In der sowjetischen Zeit war das eine verpönte Sprache. Als ich mit dreizehn aus dem Dorf in die Stadt umzog und versuchte, mit allen, inklusive meinen Großeltern, Russisch zu sprechen, sagte mir meine Großmutter: Ты пэўна стыдаешся, што я так па-простаму гавару. Du schämst dich wohl, dass ich so einfach rede. Sie hatte recht. Damals habe ich mich geschämt, jetzt aber schmuggle ich nur zu gern die Wörter aus diesem Dialekt auf die Bühnen und in die Bücher, dem Beispiel der Autoren vom Anfang des 20. Jahrhunderts folgend. Sie bereicherten die belarussische Literatur dank ihres mutigen Umgangs mit der beweglichen und variablen belarussischen Sprache. Viele dieser Autoren haben ihr Todesjahr 1937 oder 1938, sie sind im Zuge der stalinschen Repressionen erschossen worden.

Als Belarussin weiß ich nur zu gut, wie viel die Sprache über uns verrät, wie ausgestellt wir in unserer Wahl der Sprache sind.

Das Ausgestellt-Sein und die Scham erlebte ich oft auch an der Linguistischen Universität in Minsk, wo man vor allem fehlerfrei sprechen musste. Mit jeder Beziehung im deutschsprachigen Raum aber, ob “real” oder literarisch, fühlte ich mich in der deutschen Sprache immer wohler. An Übersetzen habe ich zuerst nur sehr vorsichtig gedacht, als an etwas Unerreichbares, bis ich die Bücher der plattdeutschen Dichterin Greta Schoon entdeckte und ihre Texte plötzlich auf Belarussisch “hörte”. Diese erste Erfahrung hat mich verführt: Bis heute bleibe ich nach Möglichkeiten so lange bei den Texten, bis ich sie höre.

Inzwischen habe ich Ilma Rakusa und Lukas Bärfuss, Jonas Lüscher und Monika Rinck, Georg Büchner und Bertolt Brecht sowie andere Autoren auf Belarussisch gehört, und möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die dem von mir Gehörten Vertrauen schenken: meinen Auftraggebern, Verlegern, Lektoren, Förderinstitutionen, Lesern und jetzt auch bei Ihnen, werte Akademiemitglieder. Teil des zeit- und grenzübergreifenden Beziehungsnetzes der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu sein, erfüllt mich mit Freude und Hoffnung. Für dieses kostbare Geschenk bedanke ich mich sehr.