Writer and Translator
Born 13/11/1964
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»Wer ich bin?« ist der erste Satz meines jüngsten Romans. Die Frage ist nicht an mich gerichtet, sondern an einen Erzähler, den ich vorübergehend beherbergte. Wie vermutlich die meisten von uns weiß er keine eindeutige Antwort darauf. Er ist sich selbst ein Rätsel. Allenfalls kann er mit einigen Indizien weiterhelfen, die den Fragenden auf die richtige Spur bringen sollen. Was sich anböte, um einer Antwort näher zu kommen, wäre am ehesten noch das Ausschlussverfahren: wer ich nicht bin. Wie aber innerhalb von fünf Minuten die Liste dessen erstellen, was man alles nicht ist?
Wer ich bin, gewissermaßen im luftleeren Raum, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Wer ich wie, wo und wann bin, schon eher. In Frankreich zum Beispiel, wo ich seit fünfunddreißig Jahren lebe, bin ich deutscher, als ich es in Deutschland je war und hätte sein können. Wenn ich in die oberhessische Kleinstadt zurückkehre, in der ich zuletzt zur Schule ging, bin ich eine exotische Pariserin. Im deutschen Feuilleton bin ich eine bis an die Zähne mit Deleuze, Derrida und Foucault bewaffnete Postmodernistin. In Polen bin ich gerne Französin. Im Walter-Benjamin-Archiv in Berlin bin ich die Urenkelin von Florens Christian Rang. Für Pierre Michon bin ich seine Übersetzerin. In Grignan in der Drôme bin ich die Schwiegertochter von Monsieur Jaccottet.
Wer bin ich also? Das Französische stellt mir die Frage wirksamer, es piekst mit Nadeln, bis ich mit der Sprache herausrücke: Qui suiiiis-je?
Wer hätte von einem derart zivilisierten Volk so viel Penetranz erwartet ? Wenn ich mir die Frage auf Französisch stelle, wirken wir beide, sie und ich, noch in derselben Sekunde lächerlich. Und in der Sekunde darauf, in einer nicht aufzuhaltenden Kettenreaktion – selbstironisch. Qui suis-je? Wer so fragt, verspottet sich. Er verspottet sich selbst und die Philosophie gleich mit, ob er es will oder nicht. In »Wer bin ich?« hingegen liegt, scheint mir, keine Spur von Hohn, es ist und bleibt eine der ernstesten der unbeantwortbaren Fragen.
In diesem Spannungsfeld zwischen zwei Sprachen, das mitunter auch eine Art Streckbank darstellt, lebe ich. Nicht, dass ich diesen Zustand angestrebt hätte. Es ist kein sonderlich bequemer. Ich schaue auf meine Kindheit und Jugend zurück als auf die Jahre, in denen ich noch ein Zuhause hatte; in denen ich daheim war in einer Sprache und in einem Land. Warum habe ich mir mit aller Kraft das Französische aneignen wollen? Warum hat es mir mit gerade einmal achtzehn Jahren, fast noch als Kind, nicht ausgereicht, diese fremde Sprache zu lernen, mich gut in ihr verständigen zu können; warum habe ich ganz in ihr aufgehen, mit ihr eins werden wollen? Es scheint, als wäre ich auf der Flucht gewesen, aber wovor? Doch nicht vor dem, was üblicherweise als die »deutsche Vergangenheit« bezeichnet wird? Habe ich mit der anderen, für mich unbefleckten Sprache einen Zufluchtsort gewählt? Es käme mir unredlich vor, das heute behaupten zu wollen, denn es ist mir damals nicht in den Sinn gekommen. Sicher ist aber: Ich wollte nicht als Deutsche erkannt werden, wollte in der anderen Sprache und im Franzosentum untertauchen. Ich fragte mich nicht, warum.
Es war in diesen frühen Jahren in Frankreich, als hätte ich – dank einer Begabung vielleicht oder eines besonders starken Willens? – Gelegenheit bekommen, noch einmal, aber diesmal im Erwachsenenalter und also bei vollem Bewusstsein, eine Muttersprache zu erlernen: von der rein sinnlichen Begegnung, dem Lauschen einer Musik, bis zum Verschmelzen mit ihr. Da ich kein Kleinkind mehr war in jenen Jahren, verlief diese Verinnerlichung einer Sprache keineswegs von selbst. Wie ein Medizinstudent lernte ich das Skelett, die Blut- und Nervenbahnen eines Gebildes kennen, das ich letztlich selbst war, oder zu dem ich allmählich wurde. Ins Deutsche kehrte ich als fremd Gewordene zurück. Seither blicke ich von außen darauf, wie auf meine fremde Muttersprache auch.