Iso Camartin

Publicist
Born 24/3/1944
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Johann-Heinrich-Merck-Preis

Kommt einer aus der Zwingli-Stadt, wohnt dort in einer »E(c/k)kehard«-Straße und hört auf den Vornamen »Iso«, so akzentuiert er auf reformatorischem Terrain das Mönchische vielleicht schon zu indezent. Man muß es jemandem aber nachsehen, der tatsächlich bei Mönchen unrigider Observanz das vermittelt bekam, was andere dann seine Bildung nannten. Da vielleicht sogar die Mitglieder dieser Akademie über Iso den Mönch aus dem 9. Jahrhundert noch weniger wissen dürften als über Iso Camartin, kann ich mir in dieser Runde, wo richtige Maßstäbe im Bereich von Sprache und Literatur geradezu statutarisch verpflichtend sind, einen Hinweis auf den bedeutenderen unter den Isones nicht ersparen. Immerhin verdankt die literarische Welt ihm die »isonische Regel«, von welcher Notker Balbulus, der Stotternde, aber auch der Poet genannt, Verfasser großer Hymnen und Sequenzen, in tiefer Bewunderung spricht. Die Regel lautet folgendermaßen: »Singulae motus cantilenae singulas syllabas debent habere« – Kurz und bündig zu deutsch: »Wieviele Noten, soviele Silben«. Mir ist keine andere Poetologie bekannt, die eindeutiger als die »isonische Regel« dafür eintritt, daß Wortkunst nicht im Gelall von Kantilenen untergehe.
Doch die Affinität zu meinem frühmittelalterlichen Namensträger geht weiter. Die Quellen berichten, daß jenes Isos Mutter kurz vor der Geburt einen Traum hatte: sie glaubte, einen Igel geboren zu haben, und sie sah, wie Knaben herbeieilten, wie jeder dem Igel einen Stachel aus dem Leib riß und sogleich begann, die Wand damit zu bekritzeln. Für Skeptiker in bezug auf die Originalität des Mittelalters sei angefügt, daß bis zum heutigen Tag für diesen Igeltraum offenbar kein antikes Muster gefunden wurde. Ein frommer Einsiedler jener Tage wußte den Traum auch zu deuten: ihr Sohn – so offenbarte er der besorgten Frau – werde einmal ein bedeutender Lehrer sein, der viele Knaben mit Griffeln bewaffnen würde (multos pueros stilis armaturus). – Vor allem im Geschäft mit »stimulis et stilis – mit Stacheln und Stiften« bemühe ich mich heute, als Lehrer es jenem großen Iso nachzutun, zugestandenermaßen weniger geschlechtsspezifisch. Iso, der Mönch, benützte lateinische Texte, Iso, der Laie, nur mehr rätoromanische. Vermutlich wäre sein Urteil über den Nachfolger in der Sprachprovinz hart gewesen: »barbaricam linguam scribens faciensque saporem – er schreibt eine barbarisch fremde Sprache und möchte ihr Würze geben«. – Wir hätten uns vielleicht noch darin finden können, daß es immer auf die Würze ankommt, und nicht darauf, in welche Sprache man diese einstreut.
Doch selbst Klosterschüler entdecken irgendwann, daß die Welt nicht nur aus Mönchen besteht. Als Entkommene fügen sie in ihre Allerheiligenlitaneien neue Namen ein, Frauennamen zunächst, dann bald einmal auch Namen von Häretikern, diesmal ohne den Segen der Kirche. Zwei aus dem deutschen Sprachbereich, die mir mit ihren »stimulis et stilis« bis heute zusetzen, möchte ich hier nennen: In den Geständnissen von 1854 schreibt Heinrich Heine, die Juden im Exil hätten es verstanden, aus der Bibel ihr »portatives Vaterland« zu machen. Das wäre ein Einrichtungsmodell unseres Planeten, zu dem ich mich vorbehaltlos bekennen könnte: daß jeder, ob Jude, Christ oder Heide, in den Büchern, die ihm wesentlich sind, sein wirkliches Vaterland erkennen würde. Nach dem Heineschen Bild portativ gewordener Vaterländer wären die Karten Europas und der Welt neu zu konzipieren. Es ist mir die liebste aller Visionen, wie auf ehrbare Weise die ideologischen Lasten der Vergangenheit abgetragen werden könnten. Und der andere »Stachlige«, Nietzsche, in guten Zeiten der lachende und lebensheitere Philosoph, Liebhaber Italiens und des mediterranen Lichtes, Verfasser einer Wissenschaft, die er »die fröhliche« genannt haben wollte, er hat damals wie niemand sonst gegen das Einspruch erhoben, was er die »zunehmende Severität der Welt« nannte. Dem täglich in unverschämter Weise sich ausbreitenden Ernst und der Beschwerlichkeit faktischer und eingebildeter Lebenslast ist nach wie vor nur mit aufklärerischer Heiterkeit, mit Scherz und mit Spott zu Leibe zu rücken. Wichtigeres gibt es heute – auch für mich – nicht zu tun. Ich gehe davon aus, daß das Anrennen gegen die Severität der Welt mir in Gesellschaft und Begleitung der Mitglieder dieser Akademie großes Vergnügen bereiten könnte. Darum danke ich Ihnen, verehrte Damen und Herren der Akademie, daß Sie mich in Ihre Reihen aufgenommen haben.