Bénédicte Savoy

Art historian
Born 22/5/1972
Member since 2017

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde, lieber Ernst Osterkamp,
mein Name ist Bénédicte Savoy. Ich bin 1972 in Paris geboren, und ob Sie es glauben wollen oder nicht, ich bin genau in dieser Woche vor 25 Jahren nach Berlin gekommen, wo ich seitdem ununterbrochen lebe. Von diesen 25 Jahren habe ich 23 Jahre bis zu seinem Tode 2017 mit dem schönsten, vitalsten, poetischsten, liebenswürdigsten, unangepasstesten und witzigsten Menschen des Universums gelebt, mit dem Maler Johannes Grützke. Dieser Maler, mein Maler, war viel älter als ich. Und so habe ich diese 25 Jahre in Berlin doppelt erlebt und gelebt. Als Vertreterin meiner Generation, einerseits, die als Zwanzigjährige nach Berlin kam und aus ihrer hochnäsigen Heimatstadt Paris genau wusste, was Deutschland ist: Wim Wenders, Heiner Müller, Pina Bausch und Jean- Luc Godard, der gerade einen Film über den Mauerfall gedreht hatte. Andererseits habe ich diese 25 Jahre im Herzen und im Koordinatensystem eines Berliners gelebt, der im Zweiten Weltkrieg ein Kind war, mir und sich und unseren entzückenden Kindern deswegen immer bis zu seinem Lebensende sehr viel Butter auf die Stullen schmierte und bei Verkleidungspartys gerne als Trümmerfrau ging. In meinem »deutschen« Leben war ich also in den letzten 25 Jahren immer gleichzeitig 20 und 55 Jahre alt, 30 und 65, 40 und 75 etc. Ich kenne alle West-Berliner Kneipen der 1970er Jahre; ich weiß, dass ich beim Kauf einer einzigen Erbsensuppe bei Aschinger am Zoo bis zur Schließung 1976 (da war ich vier Jahre alt) unbegrenzt viele Brötchen hätte essen können, und wenn ich heute an der Philharmonie vorbeifahre, weiß ich genau, dass die Jungs, die sie 1960 gebaut haben, 2 Mark 50 Stundenlohn auf der Baustelle verdienten.
Dabei hatte alles anders begonnen: Als ich zum Wintersemester 1993 nach Berlin kam, wohnte ich im Ostteil der Stadt in einem Studentenheim Clara Zetkin in Köpenick. Hier hatte die Humboldt-Universität ihre Erasmusstudenten untergebracht. Die Hauptsprache bei Clara Zetkin war Portugiesisch, weil hier auch Studentinnen und Studenten aus Angola untergebracht waren, einem lusophonen Bruderland der untergegangenen DDR. So lernte ich in Berlin zunächst Europa kennen: ein Cocktail aus Afrika, DDR, Portugiesisch, kein Telefonanschluss, meine Zimmerpartnerin Suvi Pavanen aus Helsinki (die später bei Nokia eine gute Anstellung fand) und viel, viel offene Zukunft.
Diese offene Zukunft trieb mich also in die Arme meiner großen, sehr deutschen Lebensliebe. Ich lernte neue Wörter kennen, die mir so schnell sonst nicht begegnet wären: »schnafte«, »I wo«, »Arschgeige«, »meschugge«, »Ergriffenheit« etc. Ich lernte die unbeliebte zweite Hälfte des deutschen 19. Jahrhunderts in der Kunst schätzen, Staatskünstler wie Anton von Werner und Reinhold Begas. Ich erlebte bei einem bestimmten Spaziergang in der Normandie immer wieder in der Waldes Mitte, wie mein sehr deutscher Maler jedes Mal anhalten und mit der Hand auf der Brust Die Kraniche des Ibycus von Friedrich Schiller komplett vortragen musste – bis ihm die Tränen flossen. Tränen flossen auch bei Richard Wagner, in Strömen sogar und ununterbrochen, von der Sekunde an, wo der Dirigent den Taktstock anhob, bis zum Schlussakkord. So also bin ich deutsch geworden. Mit Witz, Pathos und viel Freiheit.
Nun bin ich seit einem Jahr nicht mehr gleichzeitig 79 und 45 Jahre alt. Ich bin nur noch in der Waldesmitte meines Lebens, mit all den politischen, institutionellen und familiären Verantwortungen, die in unserer Zeit und in unserem Europa damit einhergehen. Mit der Wahl in die Akademie haben Sie mir, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde ein großes Geschenk gemacht: Sie geben mir einen Teil dieser Zeit zurück, die mir so teuer war; sie gewähren mir Gastfreundschaft in der Heimat Ihrer Sprache; sie lassen mich teilhaben an Ihrer Kreativität, das heißt an Ihrer Freiheit. Und das erfüllt mich mit ehrlicher, tief empfundener Dankbarkeit.