Martin Gregor-Dellin

Writer
Born 3/6/1926
Deceased 23/6/1988
Member since 1981

Wenn wir unser Leben erzählen, so lügen wir nur selten, unabsichtlich oder in Nebensachen, auf die es nicht ankommt. Wir sagen die Wahrheit, soweit sie überprüfbar ist. Aber es gibt viele Wahrheiten, das ist das Problem. Ein Mensch von einiger Phantasie, von einigem Glück und Unglück vereinigt eine Reihe von Wahrheiten, die einander nicht ausschließen, und also auch von Lebensläufen in seiner Person. Da die Naturwissenschaft neuerdings eine Intelligenz außerhalb des menschlichen Gehirns nachgewiesen hat – so daß wir zwar für unsre moralischen Entscheidungen verantwortlich sind, nicht aber für die Zufälle der Evolution –, so lassen sich wahlweise mehrere Lebensläufe denken, die gleichwohl jedesmal zum selben Ergebnis führen.
Mein Geburtsort ist Naumburg. Gelebt habe ich von 1926 bis 1958 mit Ausnahme dreier Kriegs- und Nachkriegsjahre in Weißenfels an der Saale, benachbart dem Haus der Louise von François, das in der Letzten Reckenburgerin abgebildet ist, am Markt, der ein Karree von Straßen abschließt, in dem die Häuser von Heinrich Schütz, Johann Beer, Adolph Müllner, Novalis und der Mutter Richard Wagners liegen – was so phantastisch klingt, daß man dem Bild einer untergegangenen Welt, die wohl noch einige zu schreibende Bücher beeinflussen wird, auch den Namen Nietzsches hinzufügen darf. Meine Heimat ist also der Saalebogen zwischen Röcken und Schulpforta, genauer: das Kaisersaschern des Doktor Faustus, vor, in und nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Stadt, deren bei wechselnden Aufmärschen, Kundgebungen und Verfinsterungen gleichbleibendes Bild in meine Romane Jakob Haferglanz und Der Kandelaber eingegangen ist.
Mein musikalischer Lebenslauf begann zwölfjährig mit dem Vortrag einer Kirchenarie für Violoncello von Stradella vor dem Gauleiter auf der Moritzburg in Halle, zur peinlichen Verwunderung aller Beteiligten des Hausmusik-Wettbewerbs. Denn warum ausgerechnet eine Kirchenarie? Nun, weil sie leicht und gut zu greifen war – woran sich eine lange Betrachtung über das Wesen des Nonkonformismus und den schwierigen Weg des geringsten Widerstands knüpfen ließe. Der Musiker, der ich nicht geworden bin, lebt im wesentlichen von den Orchester- und Kammermusikwerken, die nur in meinem Kopfe existieren und die gewöhnlich von Memmingen bis St. Gallen oder vom Nürnberger Kreuz bis zum Autobahnring München dauern, Gelungenes und weniger Gelungenes. Geschrieben ist dagegen eine Wagner-Biographie, die nicht nur von Richard Wagner lebt und daher jenen andren Lebenslauf voraussetzt, der aus den Erregungen des Schreibens bestand und sich eine eigene Dramaturgie erzwang, in die sich das Entsetzen mischte. Dieses Schreiben ins Ungewisse macht mir erst im nachhinein Sinn. Daneben erscheint mir die Herausgabe der Werke Klaus Manns gleich erwähnenswert, als ein Abtragen von Schuld gegenüber der Vergangenheit. Mit fünfzig beginnen die Pläne zahlreicher zu werden als die Jahre. Aber es gibt Zusammenhänge, die man erst heute begreift, Bücher, die man erst jetzt schreiben kann.
Ich verließ 1958 die DDR und lebe in Bayern, dem ich mit Verwunderung anhänge. Ich versuche zu verstehen, warum ich gegen alle Wahrscheinlichkeit Schriftsteller geworden bin. Ich bin ungesellig, wogegen der Anschein spricht. Ich habe mich anfangs zwingen müssen, öffentlich das Wort zu ergreifen – man wird die Wortmeldung schwer wieder los. Meine Neigung ist nicht Politik, sondern Ästhetik, Spiel und Traum, aber indem ich zurückblicke, bemerke ich, nichts getan und geschrieben zu haben, was nicht politisch war.
Man bekommt in mittlerem Alter eine relativ kleine Zahl relativ fester Überzeugungen, wobei man sich hüten muß, allzuviele Überzeugungen zu besitzen, denn die meisten Überzeugungen bestehen nur aus Abneigungen und Vorurteilen und sind Feinde des Lebens, des Genusses, der Aufnahmefähigkeit und der Mitwelt, die unter diesen Überzeugungen zu leiden hat. Ich glaube, daß die Forderung nach Frieden unabdingbar ist, daß ihr die Forderung nach Freiheit auf dem Fuße folgen muß, nach einer Freiheit, die soziale Gerechtigkeit in sich enthält und einzig und allein durch die Erhaltung der Lebensgrundlagen aller eingeschränkt werden darf. Ich glaube an eine Art umgekehrten Kantschen Imperativ: Handle so, daß das, was du tust, alle dürfen.