Philosopher
Born 12/3/1930
Member since 1995
Meine Studenten in Bochum gaben mir den Spitznamen »Habicht«, nicht wegen der Nase, nicht, weil ich wie ein Raubvogel auf arme Examensküken herabgestürzt wäre, nicht weil das Wort »Habicht« etymologisch verwandt ist mit capio, capere, fassen, wovon »kapieren« kommt, nein, sie nannten mich nur deshalb so, weil ich dieses Wort nicht richtig aussprechen konnte; ich betonte die Stammsilbe und sprach ein »sch«. Das klang etwa wie »Habbischt«. Denn wir Mainzer konnten zwar – eine Weile her –, die Kunst des Buchdrucks erfinden, aber ein ch hervorbringen, das sich von einem sch unterscheidet, das können wir nicht.
Damit wissen Sie, wo ich 1930 geboren wurde. Meine älteste Erinnerung betrifft 1933, nicht, wie Sie denken, sondern es war das Heilige Jahr, und mein Vater »kam zurück vom Land der Wunder«; er hatte mit einem Freund, einem katholischen Pfarrer, – per Auto – eine Pilgerreise nach Rom gemacht, meine Mutter durfte dafür den heiligen Rock in Trier verehren. Diese Freundschaft meines Vaters hatte Folgen: Als 1935 der gotische Turmreiter der Pfarrkirche, 200 Meter vom Rhein, abgerissen wurde, bastelte mein Vater einen Riesenkäfig – er nahm ein Viertel des Wohnzimmers ein –, und wir bekamen, bis der neue Kirchturm fertig war und sie wieder eine Heimstatt hatten, alle oder jedenfalls viele Fledermäuse ins Wohnzimmer, ein Heimzoo für ein paar Wochen, ein unbeschreibliches, schwarz-unheimliches Vergnügen für uns Kinder. Mich konnte Pfarrer Schwalbach – Schwalbach, Fledermäuse, Habicht, Sie sehen schon, ich gebe keinen soliden Bericht, ich treibe ornithologische Mythologie – mich also konnte er nicht so gut leiden, oder vielmehr, ich konnte ihn nicht so gut leiden, denn er war von düsterem Ernst. Das war begreiflich, denn er war vor ’33, Zentrumsmann wie mein Vater, politisch aktiv und konnte sich auch jetzt nicht zurückhalten. Wenn er predigte, warteten wir Buben darauf, bis das Wort »Hilfe« vorkam. Altmodisch, wie er sich gab, sprach er dieses Wort mit betontem, langezogenem Ü. Wir lachten, aber Gestapoleute protokollierten seine Predigten, eines Tages – ich denke, es war 1943 – holten sie ihn ab. Als er nach Monaten, noch düsterer geworden, zurückkam, machte ihn der Bischof von Mainz sofort zum Domkapitular, denn Stohr, ebenfalls Zentrumsmann vor ’33, war der dritte Mann der politisch-katholischen Skatrunde: Stohr, Schwalbach, Flasch.
Pfarrer Schwalbach bekam als Freund des Bischofs hochqualifizierte Kapläne, von denen ich mehr profitiert habe als von ihm. 1942 kam aus Münster ein Kaplan, dort frisch promoviert mit einer Arbeit über die Rechtsphilosophie des Thomas von Aquino. Sie trug, wie man nachlesen kann, den Titel: Der Mensch, Herr seiner Rechte. Diese Tonart gefiel mir; so etwas hörte man 1942 nicht mehr im Gymnasium. Ich begann, mich für die Philosophie des Mittelalters zu interessieren. Der Kaplan, Ludwig Berg, hatte promoviert bei Peter Tischleder, den ich durch ihn näher kennenlernte. Tischleder hatte in den zwanziger Jahren, als Katholiken noch darüber stritten, ob sie Monarchisten sein müßten oder ob sie in der Republik mitarbeiten dürften, mit Hilfe mittelalterlicher Texte die Demokratie verteidigt. Jetzt war er zwangspensioniert und unterschrieb seitdem Postkarten an Freunde mit: Petrus in vinculis.
Sein Schüler verstand sich als Philosoph; er las Nicolai Hartmann und Max Scheler. Als ich vierzehn war, schenkte er, der katholische Geistliche, mir einen Reclam-Band und sagte: Du bist jetzt ein Mann, du kannst das lesen. Es war der Zarathustra. Vorher schon hatte er mich in Konzerte und Ausstellungen mitgenommen, in Dichterlesungen mit Johannes Kirschweng und Juliana von Stockhausen; ich sah mit ihm Maria Stuart und Faust I. Er wurde mein eigentlicher Lehrer; das Gymnasium langweilte mich.
Nur hatte er eine Schwäche: Er wußte wenig Historisches. Eines Tages sagte er zu mir: »Du fragst mich zu viel Geschichtliches. Das Philosophische ist mein Fach, Astronomie interessiert mich auch. Aber für Geschichte brauchst du jemand anderes. Ich habe einen Freund, der Historiker ist. Ich bringe dich hin.«
An einem Herbstnachmittag 43 brachte er mich ins Priesterseminar, ins alte Augustinerkloster. Wir trafen einen Mann im grauen Arbeitskittel, der zwischen hohen Bücherbergen saß; er nagelte grade eine Holzkiste zu. Er arbeitete allein; er verpackte eine Bibliothek, sie sollte in den Luftschutzkeller. Er war freundlich zu mir, und als der Kaplan nach Hause drängte, sagte ich zum Bibliothekar:
Herr Doktor, wenn ich Ihnen helfen könnte, käme ich morgen gerne wieder.
Abgemacht. Wir haben ein Jahr lang zusammengearbeitet, jeden Wochentag nachmittag. So haben wir beide die Bibliothek des Schwagers Goethes und seines Sohnes gerettet, denn diese Bücherberge waren die Bibliothek von Fritz Schlosser. Ich habe den Werther und die Lucinde in der Erstausgabe gelesen; ich habe eine Sammlung von zwölf Streitschriften des Angelus Silesius entdeckt, die Clemens Brentano zusammengestellt hatte. Wir hatten die Erstausgaben der deutschen Literatur kaum verstaut, da zerfetzte eine Sprengbombe die leeren Regale. Der Bibliothekar war ein gelernter Paläograph, ein Historiker, der in Frankfurt promoviert hatte. Übers Wochenende lieh er mir alte Bücher aus, die im 16. Jahrhundert in mittelalterliche Handschriften eingebunden worden waren. Ich hatte die Hausaufgabe, diese Fragmente zu transkribieren; am Montag korrigierte er meine Transkriptionen. So lernte ich lateinische Paläographie. Der Gelehrte, der nie von Glaubenssachen sprach, auch nicht in Situationen auf Leben und Tod, stammte aus Bingen-Büdesheim. Gelegentlich sprach er von seinem Cousin, den seine Verwandten für einem Spinner hielten; dieser Spinner war Stefan George.
Ich erzähle diese Bilder einer Mainzer Kindheit knapp, wie aus der Vogelperspektive, als wäre sie glatt zugelaufen auf die Verbindung von Philosophie, Bibliotheksstaub, Politik und Poesie. Aber alles war härter, politischer, dem Tode näher und doch auch idyllischer und barocker. Diese Kindheit brach 1944 innerhalb von 20 Minuten grausam ab. Seitdem lag Mainz hinter mir. Ich habe in Frankfurt studiert – bei Philosophen, die heute jeder kennt, bei Althistorikern wie Matthias Gelzer und Hermann Straßburger, besonders bei dem ebenso witzigen wie gelehrten Mittelalter-Historiker Paul Kirn. Der Konflikt von Philosophie und harter Historie stellte sich auf neuer Ebene ein.
Ein Leben lang rühre ich nun in diesem Gemenge aus Politik, Philosophie und Sätzen aus alten, fast verschollenen Büchern. Meine frühe Entschlossenheit, ein philosophisches System zu bauen, brach sich an Geschichte, nicht an dem Kartenhaus, das Philosophen unter diesem Namen kennen, sondern an methodisch streng ermittelten Fakten: Historie als Handwerk und als Irritation.
Ich kann Ihnen die Übersicht nicht dadurch erleichtern, daß ich schlicht sage: Ich bin Historiker der Philosophie mit besonderem Interesse an ihrer älteren Geschichte. Das wäre zu glatt; ich studiere zum Beispiel seit vielen Jahren den Ersten Weltkrieg. Weil ich den Zweiten nie begreifen werde, versuche ich es mit dem Ersten. Bei diesem Wühlen verblieb mir die philosophische Intention, noch im strengsten, im »reinsten« Begriff von »Vernunft« deren geschichtlich-kontingente Prägung nachzuweisen. Ich suche Vicos Verbindung von Philologie und Philosophie, nicht einfach Philosophiehistorie.
Als Autor suche ich das scharf Umrissene, Nebelfreie. Wenn mir so etwas gelungen ist, indem ich über Augustin, Anselm und Boccaccio schrieb, verdanke ich es zunächst faktischen Funden.
Stolz bin ich auf die Wiederentdeckung Dietrichs von Freiberg. Dietrich gab um 1300 als erster die heute als richtig geltende Theorie des Regenbogens, gestützt auf arabische Optik. Er trug eine philosophische Theorie vor, wonach der menschliche Verstand die Wesenheiten der Dinge konstituiert – er sagt ausdrücklich »konstituiert« –, ohne daß die Wesenheiten bloße Abstraktionen wären. Dietrich war Lehrer und Freund von Meister Eckhart. Durch die Edition seiner Werke, vier Bände scholastischer Texte, habe ich versucht, Meister Eckhart aus dem mystischen Strom zu retten und ihn in dem geschichtlichen Zusammenhang zu zeigen, in den er gehört.
Diese Arbeiten hätte ich nicht machen können ohne die Förderung durch Raymond Klibansky und ohne eine neue Lernzeit in Florenz bei Eugenio Garin und Cesare Vasoli. Davon wäre lange zu reden, mit der gebührenden Verachtung für die Bürschlein von der Toscana-Fraktion. Aber ich schließe, indem ich mich Ihnen vorstelle als Archivar mit Grübelneigung, Machiavelli-Leser mit kantisch-unglücklicher Liebe zur Metaphysik.
Balancierend auf dem nicht-existierenden Bindestrich zwischen Pascal und Voltaire, bearbeite ich einen langen, uneinheitlichen Zeitraum mit vielen Unbekannten, von Augustin zu Giordano Bruno und Campanella, über dessen Philosophische Gedichte, die in fast dreißigjähriger Kerkerhaft entstanden sind, im Herbst ein Buch von mir erscheinen wird. Dies ist mein Arbeitsfeld.
Dicht nebenan steht Georges totgesagter Park.
Ich danke Ihnen.