Helmuth Feilke

Linguist
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Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren,
ich bin geboren als Ältester einer Bauernfamilie mit fünf Kindern aus dem Westerwald, einer Region, die manche nur aus einem Soldatenlied des Ersten Weltkriegs und die sonst nur wenige kennen, auch, weil deutsche Lebensadern, die A3 im Westen, die A45 im Osten und die A4 im Norden darum herumführen. Wie kommt man von dort nach
Darmstadt?
Für Günter Grass war, als er 1965 hier seine Dankrede zum Büchner-
Preis hielt, der Westerwälder Bauer noch Inbegriff des Unaufgeklärten. Zitat: »Wer wollte erwarten, daß ein Bauer im Westerwald die demokratischen Grundrechte richtig wahrnimmt«, wenn – so fährt er sinngemäß fort – noch nicht einmal Professoren und Schriftsteller den langen Schatten der NS-Zeit politisch aktiv entgegentreten? Da war ich gerade sechs Jahre alt, und der ältere Dorfschullehrer zückte für jede Unbotmäßigkeit den Stock. Als ich elf war – die Grundschule dauerte fünf Jahre –, sollte ich als Strafarbeit für den Junglehrer den Herrn von Ribbeck auf Ribbeck zwanzigmal abschreiben, weil ich mehrfach vorgegeben hatte, die Strafe – ich weiß gar nicht mehr wofür – einfach vergessen zu haben, was die Zahl der geforderten Abschriften jedesmal verdoppelte. Ich wurde dann für einige Tage krank.
Es war die Mutter, die uns stets erlaubte, uns zu dispensieren von den Forderungen aller möglichen Autoritäten, krank zu sein, wenn wir
wollten. Das war ein anarchischer Impuls. Sie hatte ihren geliebten,
zehn Jahre älteren Bruder, einen begeisterten Adolf-Hitler-Schüler und späteren Panzeroffizier, den ganzen Stolz der vorbildlichen NS-Bauernfamilie, in Russland an die verloren, die unbedingte Gefolgschaft forderten. Mit gerade mal dreizehn Jahren nahm sie mich mit ins Kino der Kreisstadt zur Brücke am Kwai. Das Filmerlebnis toppte bei weitem den Eindruck der Kinoplakate von Schulmädchenreport III oder Das große Fressen, an denen wir frühmorgens auf dem Schulweg aufmerksam vorbeistreiften: Niemals wieder Kriegsdienst! Äußerste Skepsis gegen jeden, der die Schuld des letzten Krieges und seiner Ursachen im nationalistischen Wahn verneinte und bestritt. Was sie uns mitgeben konnte, waren Werte, nicht akademisches und literarisches Wissen, das sie selbst gern erworben hätte. Handkes Wunschloses Unglück die Normalität, die alles für die eigenen Kinder wünscht, ohne ihnen helfen zu können: Mach was aus dir! Schau, wie du zurechtkommst! Fünffach der Appell, fünffach das Studium der Bauernkinder.
Der Eintritt junger Lehrer in das örtliche Gymnasium in den 1970er
Jahren wirkte wie eine Befreiung: Wie funktionieren Diktaturen? War
der 9. November 1938 ein Pogrom? Im 10. Schuljahr interviewten wir
Hauptschüler und Nachbarklassen und untersuchten ihren Sprachgebrauch auf Merkmale des restringierten und elaborierten Codes. Aus unserer Sicht das höchste Attribut für Lehrer war: Durchblick haben. Unser Selbstbewusstsein, eine objektive Wahrheit erkennen zu können, unbegrenzt. Beim frühjährlichen Zäuneflicken mit dem Opa – dem bodenverbundenen, überregional einflussreichen Bauernvertreter – führte das zu heftigen Diskussionen über aktuelle SS-Kameradschaftstreffen in der Kreisstadt und Zusammenhänge mit dem Niederbrennen der örtlichen Synagoge durch SA-Schergen 1938. »Wirrerworde, du gist nur Wirrerworde!« Widerworte, du gibst nur Widerworte! Szenen auf dem Lande, während aus den Städten Nachrichten aus dem deutschen Herbst über den abendlichen Bildschirm flackerten.
Ich studierte Sozialwissenschaften und Deutsch für das Lehramt in
Siegen, einer der kleinsten Universitäten Nordrhein-Westfalens. Die
kleine Hochschule war ein akademischer Schmelztiegel mit Lehrern
wie dem Literaturwissenschaftler Helmut Kreuzer, dem Konstruktivisten S. J. Schmidt, der Soziologin Helge Pross und dem Linguisten und Rechtschreibreformer Gerhard Augst. Das erste geisteswissenschaftliche Graduiertenkolleg der DFG »Kommunikationsformen als Lebensformen« brachte Leute wie Watzlawick, Gadamer, Luhmann nach Siegen. Ich habe von Beginn die Universität als Ort der Widerworte kennengelernt, mit einer Formulierung Humboldts als »Arena für den Antagonismus der Meinungen«.
Ausschlaggebend für meinen Verbleib waren eine Mitarbeiterstelle
und die Ermutigung, einer gänzlich unausgegorenen Frage doch linguistisch weiter nachzugehen: Warum können wir im Deutschen die
Zähne putzen, aber nicht waschen? Warum können wir uns zwar in die Sonne setzen, aber nicht in den Mond? Und warum können wir nicht einfach – wie mir zwei russische Austauschstudentinnen nahelegten
– einen Verkehrspolizisten, der mit seinen Händen den Verkehr regelt, einen »Straßenhändler« nennen? Es geht um die Rolle des
nicht durch Regeln und Formen bestimmbaren Sprachwissens für den
Sprachgebrauch. Common sense-Kompetenz hieß dann das Buch dazu. Die Grundthese: Nicht in erster Linie die sprachliche Form, sondern der übliche Gebrauch ist die unverbrüchliche Grundlage des Verstehens,
auch und gerade auch für Widerworte.
Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu den didaktischen Fragen, die mich heute vor allem beschäftigen. Ich habe gelernt, dass der Common sense alles andere als selbstverständlich ist. Die für das Lernen gebrauchte Sprache, als Bildungssprache in aller Munde – und für eine Versammlung wie diese hier die alltägliche Morgengrütze –, steht nicht auf jedem Frühstückstisch. Wie kann gelernt werden, was kompetenten Sprecherinnen und Sprechern, vor allem aber auch Schreiberinnen und Schreibern selbstverständlich erscheint? Und welche Rolle spielen dafür gemeinsame Spracherfahrung, gezielte Unterstützung und geteilte Aufmerksamkeit?
Das ist aber ein anderes Thema. Und wenn von »geteilter Aufmerksamkeit« die Rede ist –
Ich danke Ihnen.