Stefan Weidner

Writer, Translator and Journalist
Born 1/10/1967
Member since 2017

Johann-Heinrich-Voß-Preis

Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Akademiemitglieder, liebe Freunde,
so sehr es mich überrascht, heute hier stehen zu dürfen, ist es keineswegs so überraschend, wie ich mir gern einreden würde. Diejenigen unter Ihnen, die länger dabei sind, wissen, dass es die Akademie geschafft hat, mich früh in ihren Bannkreis zu ziehen, und zwar durch einen einfachen, aber sehr wirksamen Trick: diesen Kreis auf unerwartete und zugleich vorausschauende Weise auszudehnen, auf eine Sprache und eine Dichtung jenseits des Westens, so dass sich die Kreise der Akademie schließlich mit meinem eigenen Wirkungskreis überschnitten, der arabischen Poesie und der islamischen Welt im allgemeinen.
Wie ich dazu gekommen bin, mich damit zu beschäftigen? Regelmäßig werde ich gefragt, ob ich entweder arabische Wurzeln habe oder Muslim sei, eine Frage, die mir besonders oft entgegenschlägt, wenn mich jemand beim Arabischsprechen belauscht. Ich könnte diese Frage, die in jeder Hinsicht klar zu verneinen ist, als Kompliment auffassen. Sie unterstellt aber eine Art von Kausalität, die einer Einschränkung gleichkommt; die Reduktion auf die Herkunft beraubt das, was ist, zwangsläufig eines Teils seiner Eigenständigkeit. Im Hintergrund solcher Fragen schwingt, und sei es noch so unbewusst, ein Bild vom Menschen mit, welches alles, was wir tun und sind, auf die eine oder andere Weise mit unserer Herkunft erklären will; welches auf allzu klaren, allzu binären Vorstellungen von Identität und Differenz beruht; und welches folglich die Freiheit, die sich alle auf die Fahnen schreiben, immer nur als Freiheit zur Entfaltung eines je Eigenen, Selbstidentischen denkt, welches immer schon da gewesen sein soll, angelegt in irgendwelchen Ursprüngen. Die Freiheit dagegen, die ich mir nahm, als ich mit fünfzehn aus einer Laune und einer Langeweile heraus Arabisch zu lernen begann, war die Freiheit der Abweichung, also genau der umgekehrte Impuls: die Befreiung vom Eigenen.
Diese Abweichung und Befreiung war nicht nur eine vom großkulturellen Umfeld, dem deutschen, europäischen, christlichen oder wie auch immer wir es definieren, sondern zunächst eine von der familiär vorgegebenen, entschieden kleinbürgerlichen Mikrostruktur. Dass dort einer ohne Notwendigkeit und ersichtliche Gründe Arabisch lernte, zumal ein Pubertierender, der doch andere Sorgen haben müsste, schien aberwitzig.
Meine Eltern haben nie eine Universität von innen gesehen, nie eine Fremdsprache gelernt und ließen sich nur zögerlich von dem Fernweh anstecken, das die Deutschen im Lauf der siebziger Jahre allmählich ergriff und meine Klassenkameraden in den Ferien immerhin schon nach Spanien, Italien, Jugoslawien oder Griechenland fahren ließ. Der Wunsch, aus diesem unverschuldet beschränkten Milieu auszubrechen, indem ich mir fremde Sprachen aneignete, darunter das Arabische, ist daher nicht als Rückkehr zu irgendwelchen Wurzeln zu erklären, sondern nur als mutwillige Selbstentwurzelung.
Wie ich später begriff, war ich mit diesem Impuls keineswegs allein. Fernweh und – freiwillige wie unfreiwillige – Selbstentwurzelung haben viele Menschen seit jeher angetrieben, nicht nur die heutigen Flüchtlinge, sondern schon in den achtziger Jahren viele der arabischen Dichterfreunde, die ich wie durch ein Wunder ausgerechnet in meiner Heimatstadt kennenlernte, in Köln, und mit denen ich zusammenzuarbeiten und zu übersetzen begann.
Jede Beschäftigung mit dem Orient – ich bleibe bei diesem umstrittenen Wort, weil ich glaube, wir löschen etwas Wertvolles aus unserem kulturellen Gedächtnis, wenn wir es aufgeben –, jede Beschäftigung mit dem Orient fällt in ihre eigene Zeit. Meine, unsere ist die der großen Kontroverse über diesen Orient beziehungsweise über das, was auf ihn folgte. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich dafür dankbar bin und diese Kontroverse als Bereicherung empfinde, als Anstoß zur Klärung, dazu, alles zu hinterfragen, zu durchwühlen und umzupflügen, was lange als selbstverständlich galt, nicht nur den »Orient«, sei es den realen oder den imaginierten, sondern auch die Grundlagen und vermeintlichen weltanschaulichen Selbstverständlichkeiten, auf die wir selbst uns berufen, also der sogenannte »Westen«.
Diese Hinterfragung, diese Veruneindeutigung, Verschiebung, Übertragung würde ich als mein eigentliches Metier bezeichnen. Es wundert nicht, dass ich darüber vor allem Übersetzer und Essayist geworden bin. Beides sind Bezeichnungen für Undefinierbares, Namen für Unbenennbares, Grenzüberschreitendes, Verwandelndes. Was den Essay betrifft, ist man gern bereit, dies zuzugestehen. Weniger wohl beim Übersetzen, dürften einige denken; aber nicht einmal dann, wenn von der Übersetzung von Poesie die Rede ist, zumal von fremdkultureller, außereuropäischer? Davon unabhängig gilt: Wer der Übersetzung die ihr mögliche Freiheit und Kreativität versagt, leistet einem Verständnis des Übersetzens Vorschub, welches den Menschen, die Übersetzerinnen und Übersetzer, eines Tages überflüssig macht.
Die Übersetzung ist daher für mich die Verkörperung unklaren Tuns überhaupt. Sie ist in den herkömmlichen binären Kategorien nicht zu fassen: Sie ist weder Kopie noch Original. Sie ist weder Identität noch Differenz, ja mehr noch: Sie darf, will und soll weder das eine noch das andere sein. Wäre sie einer von diesen beiden entgegengesetzten Polen, dann wäre sie keine Übersetzung mehr, sondern selbst entweder das eine oder das andere, das Fremde oder das Eigene.
Insofern beim Übersetzen also das ewig Unklare, Uneindeutige mit am Werk ist, schließt es an meinen Urimpuls an: aus dem Eigenen, aus der Vorstellung von Verwurzelung auszubrechen, nicht um in einer anderen Verwurzelung zu landen, also eine Selbst-Umpflanzung zu betreiben, sondern um in einem Dazwischen zu landen, welches erst – und vielleicht allein – Freiheit für mich bedeutet.
Wo verorte, wo sehe ich mich angesichts dessen in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, mit welchen Elementen ihres Namens identifiziere ich mich? Das Deutsche soll es nicht sein – nicht, weil ich es nicht lieben würde, sondern weil es mir nicht genügt. Es kann auch nicht die Akademie, geschweige denn das Akademische sein, dafür trage ich nicht die nötigen Titel. Es darf, wiewohl ich das fast bedaure, nicht einmal die Sprache sein, denn dafür fehlen mir allzu oft die Worte. Dass es aber auch die Dichtung nicht sein kann, versteht sich von selbst, denn meine Ehrfurcht vor ihr ist unendlich groß.
Erlauben Sie mir, dass ich mich im Rahmen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in den kleinen Wörtern verorte, in der Konjunktion und in der Präposition, im Verbindenden und Sorgenden, im und und im für. Sogar diese kleinen, einsilbigen Wörter sind mehr, als man gemeinhin denkt, aber ich kann mich mit ihnen identifizieren und zugleich ausreichend unbeschrieben bleiben; ich bin im Rahmen dieser Identifikation selbst nicht mehr als eine Konjunktion, eine Präposition, ein Weder-Noch, immer zwischen zwei Dingen oder auf dem Weg zu ihnen, in einer Mission, die zum Glück nirgendwo hinführen muss, sondern ihren Sinn im bloßen Für-etwas-Sein als erfüllt betrachtet.
Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mich auch angesichts solcher Bekenntnisse fortan bei Ihnen mitspielen lassen wollen. Vielen Dank!