Nico Bleutge

Poet and Literary critic
Born 13/10/1972
Member since 2021

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wenn man von Darmstadt aus auf der A67 Richtung Frankfurt fährt und dann bei Rüsselsheim auf die A60 wechselt, landet man bald in Mainz. Es ist eine Strecke, die mir einigermaßen vertraut ist, weil ich eine Zeit lang für ein Schreibprojekt (aus dem, wie aus so vielen, nichts geworden ist) das Eisenbahnmuseum in Kranichstein besucht habe. Nach meinen Recherchen fuhr ich meist nicht gleich nach Tübingen zurück, wo ich damals lebte, sondern die vierzig Kilometer rüber an den Rhein. Hinein in diese Wasser- und Industrielandschaft, die zugleich meine wichtigste Kindheitslandschaft ist. Dort hatten früher die Großeltern gewohnt. Und obwohl wir sie nur alle paar Monate besuchten, flitzte ich nach jeder Ankunft sofort auf den Balkon, um mit dem Fernglas in die Dunkelheit zu schauen. Ich sah die Rheinfrachter mit ihren roten und grünen Positionslichtern, sah, wie sie sich langsam bewegten, und hörte das Stampfen der Motoren.

Wenn es ein biographisches Detail gibt, von dem aus sich eine Verbindungslinie ziehen läßt zu meinem Schreiben, dann ist es dieses nächtliche Stehen auf dem Balkon. Eingewandert ist es in das große Erinnerungs- und Sprachreservoir, aus dem sich mein Schreiben speist. Darin sind Bildfunken und atmosphärische Fetzen genauso abgelagert wie Sprachteilchen, mit dem Ohr aufgeschnappte oder im Vorbeiwischen gelesene Wortfolgen. Das mag nach Sedimentierung klingen, aber die Schichten sind hoch beweglich und können sich jederzeit in die Wahrnehmung schieben. Die Erinnerung an die Rheinfrachter mit ihren Lichtern stach durch, wenn ich in Tübingen abends die Stocherkähne auf dem Neckar sah. Sie schälte sich aus der winterlich-dunstigen Atmosphäre am Bosporus heraus, als ich für ein halbes Jahr in Istanbul war. Sie zeigt sich zwischen den Containertürmen im Berliner Westhafen, wenn ich nach dem Schreiben spazieren gehe. Selbst die kleine Ilm in der Hallertau kann für Momente zur Rheinlandschaft werden, wenn sich in der Dämmerung die Lichter der Verkehrsampeln auf der Wasseroberfläche spiegeln.

Ich bin in einer oberbayerischen Kleinstadt aufgewachsen. Wer die Sozialstruktur solcher Kleinstädte mit all ihren Hierarchien und Kontrollmechanismen kennt, der ahnt vielleicht, was es heißen kann, eines der grundlegenden Einschluß- wie Ausschlußmedien nicht zu beherrschen: die Sprache. Hamburg und das Rheinland sind die Sprachhintergründe meiner Eltern, in meiner Familie wurde ein Idiom gesprochen, das keine deutlichen Sprachfärbungen trug, auf alle Fälle nichts von jenem bayerischen Dialekt hatte, der dort üblich ist.

Anfang der achtziger Jahre waren wir aus der Oberpfalz in die Hallertau gekommen. Die Sprache zu lernen, war eine erzwungene Notwendigkeit, wollte man dazugehören und nicht als „Zuagroaster“ bezeichnet und von den anderen Kindern ausgegrenzt werden. So brachte ich mir die Sprache bei, indem ich Kassetten der Spider Murphy Gang rauf und runter hörte. Formulierungen wie „Pfiat di“ oder „Es war so schee“ kann ich noch heute nicht aussprechen, ohne die entsprechende Schlagzeugbegleitung mitzuhören.

Was mir davon geblieben ist: ein Bewußtsein für die Schwierigkeit, zu sprechen. Die Situation immer mitzuspüren, in der ich bestimmte Wörter gelernt habe. Vor allem aber: Wörter nicht als selbstverständlich zu nehmen, sondern sie auf ihre historischen Spuren hin abzutasten – und nach einer Sprache zu suchen, die möglichst frei ist von aufgesteckten oder eingelagerten Macht- und Gewaltstrukturen. Ich glaube, Gedichte sind wie keine andere Sprachform in der Lage, solche analytischen Widerhaken auszubilden und zugleich Bedeutungs- und Klangfäden aufzunehmen oder selber zu entwerfen, die man – um ein Lieblingswort von Elke Erb zu verwenden – nicht anders als subkutan nennen kann. Etwas, das nicht an der Textoberfläche gesagt wird, sondern gleichsam mitschwingt, das kurz im Gewebe der Zeichen aufleuchtet. Ein Gefüge von Affinitäten, aufblitzenden oder bewußt hergestellten Verbindungen. Wie damals im Kranichsteiner Museum, als ich die alten Maschinen betrachtete und plötzlich nicht nur den Geruch von Kohle, Rauch und Öl wahrzunehmen meinte, sondern auch die atmosphärische Essenz meiner Kindheit. Oder erlebte, wie die abstrusen Fachbegriffe, die ich wieder und wieder las, mit einem Mal ästhetisch anziehend wurden. Wörter wie „Schieber“, „Kondensdruck“ oder „Naßdampfregler“ habe ich seither in meinem Hinterkopf gespeichert. Und ich freue mich, sie in Zukunft mit Ihnen teilen zu dürfen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Zuwahl in diese Akademie.