Poet, Translator and Critic
Born 18/10/1971
Member since 2010
Meine Damen, meine Herren: Sich vorstellen – das tut man, nicht wahr, zuallererst mit seinem eigenen Namen. Darf ich mich vorstellen, sagt man und lässt jene Kombination von Lauten folgen, die man sich nicht aussuchen konnte und die einem doch in allen Registern bis zum Schluss treu bleiben wird. Mir selbst lag mein Name lange Zeit wie fremd auf der Zunge. Ich sehnte mich nach Alternativen, bildete gar Anagramme – und all das im kindlichen Glauben, dass die Einzigartigkeit einer Person in ihrem Namen begründet sei. »What’s in a name? That which we call a rose / By any other name would smell as sweet« – diese Verse las ich erst viel später; wahr blieb jedoch, dass weder mein Vor- noch mein Nachname sonderlich originell und selbst ihre Kombination in keinem Telefonbuch eine Seltenheit ist. An einem Winterabend in Berlin, als es klingelte und ich zum Hörer griff, wurde aus dieser Gewissheit ein Augenblick geradezu existentiellen Schreckens. »Hier ist Jan Wagner«, sagte ich, nur um am anderen Ende der Leitung eine mir unbekannte Stimme antworten zu hören: »Hier auch«. War ich in eine Borges-Geschichte geraten, in ein literarisches Doppelgängerspiel? Wenn Jan Wagner auch am anderen Ende der Leitung war, wo war dann ich? Und wer war ich? Wer bin ich?
Vertraut man den Urkunden, gehe ich als Hamburger durch, obwohl meine Mutter, eine Französischlehrerin, aus Detmold, und mein Vater, ein Professor für Strafrecht, aus Braunschweig stammen – und obwohl ich nicht in Hamburg, sondern ein Stück nördlich davon aufwuchs, dort, wo die S- zur Regionalbahn wird, jede Erhebung sich als Berg feiern lässt und der Himmel sich besonders tief herabbeugt, um sich in modrigen Waldseen und den Trögen der Kuhweiden zu spiegeln. Zwei nicht geringe Vorzüge hatte diese Kleinstadt: Es war nicht weit bis in die Metropole, und auch das Meer, nein, gleich zwei Meere waren mühelos erreichbar. Darüber hinaus verfügt sie noch immer über ein lilienweißes Schloss, dessen eiserne Wetterfahnen einen Reiter der Familie Rantzau auf seinem von schwedischen Kanonenkugeln halbierten Pferd darstellen, sowie über eine bis zum heutigen Tage nicht entzifferte Inschrift über dem Portal der ältesten ihrer Kirchen. War dies der erste magische Text, den ich zu lesen bekam, so war die erste und damit ursprüngliche Buchhandlung nach ihrem gemütvollen Eigentümer benannt, von dem man sagte, er hüte einen ganzen Überseekoffer voller Romanentwürfe unter dem Bett, und dessen entsetzlich juckende Hautkrankheit, dessen stetes Kratzen dafür sorgte, dass sein morgens noch makelloses Hemd im Laufe des Tags über und über zu blühen begann, als stießen Rosen durch eine Decke Schnee. Er und seine zwei Mitarbeiter, ein Triumvirat, dessen Vorlieben Joyce, Hemingway und Nossack galten, herrschten über die Bücherschränke meiner Heimatstadt. Wer hereinkam, um einen Thriller, eine billige Schmonzette zu kaufen, dem wurde beschieden, ja, könne er haben; er möge aber auch an Joyce, Hemingway oder Nossack denken, deren Vorzüge dem Kunden nun so lange dargelegt wurden, bis er mit ihrem Werk unterm Arm auf die Straße trat. Noch vor Jahren, als ich auf einen Sprung vorbeischaute, zeigte man mir stolz ein persönlich gehaltenes Glückwunschschreiben des Suhrkamp Verlags – diese kleine Buchhandlung einer kleinen norddeutschen Stadt habe bislang ganz allein zwei Drittel der Gesamtauflage Hans Erich Nossacks verkauft. Kein 30000-Seelen-Ort, so viel steht fest, ist besser vertraut mit Nossack. Und ich? Ich bekam all jene Bücher umsonst, über die einer der drei ihren unvermeidlichen Kaffee gegossen hatte, und mehr als das: Ich nippte an Geschichten, ich schlürfte Anekdoten. Die Schlange mochte länger und länger werden, bis sie sich in den dichten Roth-Händle-Schwaden verlor – die Herren blieben unbeirrt, noch wenn eine ältere Kundin weit hinten im Rauch die Nerven verlor und sich verzweifelt beschwerte. »Nur nicht hetzen lassen«, raunten sie mir dann zu, dabei eine weitere Filterlose entzündend: »Die Friedhöfe sind voll von Leuten, die sich haben hetzen lassen.« Und doch haben sich schon zwei dieser Connaisseure den gehetzten Massen anschließen müssen, all dem Lesen, der Muße, dem langsamen Rauch zum Trotz.
Ich bin, wenigstens zu einem Teil, die Bücher, die ich gelesen habe, die Menschen, denen ich begegnen durfte. Was ich mein Glück nenne, begann bei Eltern, die ich mir ausgesucht hätte, wenn ich hätte aussuchen können, und endete, was die Schulzeit betrifft, bei einem Lehrer, der seine Begeisterung weiterzugeben verstand – für Shakespeare vor allem, aber auch für all das, was kein Lehrplan vorsah, für Blake, Yeats und Donne, denen die selbstgewählten Lehrer zur Seite traten: Dylan Thomas mit seinem berauschenden Stimmenstück Unter dem Milchwald, dann mit seinen Gedichten, dazu Heym und Trakl, später die amerikanischen und britischen Modernen. Dass meine Vorliebe für alles Angelsächsische irgendwann ins Übersetzen münden würde, war bei meinem ersten Kontakt mit der englischen Welt freilich nicht absehbar gewesen. Ich erinnere mich an den Besuch bei Freunden der Familie in Cornwall, als wir vor einem Pub in der Sonne saßen, und ich um ein zweites Glas des köstlichen Apfelsafts bat – woraufhin meine Eltern mir, dem Sechsjährigen, den korrekten englischen Satz mit auf den Weg gaben, damit ich selber bestelle. Um es kurz zu machen: Ich kehrte mit einer Schale heißer Tomatensuppe zum Tisch zurück. Ebenso klar vor Augen steht mir der Besuch eines Wandertheaters: In einem gestreiften Zelt auf einer Pferdekoppel führte man das Stück eines berühmten Engländers auf, von dem ich nur begriff, dass eine Gruppe von Leuten auf einer Insel gestrandet waren, über die ein offenkundig böser Zauberer herrschte, der am Ende seinen Stab zerbrach und seine Bücher versenkte, Meister einer gequälten, mich zu Tränen rührenden Kreatur namens Caliban. Noch heute meine ich einen feinen Geschmack von Tomatensuppe am Gaumen wahrzunehmen, wenn ich Shakespeares Sturm lese.
Ich kann nicht leugnen, studiert zu haben, doch hielt sich mein wissenschaftlicher Ehrgeiz stets in Grenzen – sehe ich von dem Jahr ab, das ich am Trinity College in Dublin verbrachte, wo der Dichter Brendan Kennelly mein Professor war, aber auch Beckett und Wilde noch lebendig und anwesend schienen. Die Wahrheit ist, dass ich zwar einen Abschluss vorweisen kann, die Zeit aber vor allem zum Lesen und Schreiben nutzte – und zum Gründen eines Verlags, dessen einzige Publikation eine halbjährlich erscheinende Pappschachtel war, eine Loseblattsammlung mit Lyrik und Prosa aus aller Welt, ergänzt durch graphische Arbeiten. Ihr Name, Die Außenseite des Elementes, war ein sprachliches objet trouvé auf den Aufklebern, mit denen Glaser die Wetterseite der einzusetzenden Scheiben markieren, eine Art ready made, was durchaus passend war, hatte doch Marcel Duchamp mit seiner Schachtelkunst Pate gestanden. Auf elf Ausgaben kamen wir im Laufe der neunziger Jahre, darunter Schwerpunkte zur Lyrik des Iran und der Niederlande, unter Einsatz von Sprühkleber und Stempelkissen. Herrliche, schlaflose Nächte waren das, und jährliche Lesereisen im enthusiastisch schnaufenden VW-Bus; viele der Autoren, mit denen ich heute befreundet bin, lernte ich damals kennen.
Dass kurz vorm Verlassen der Universität mein erster Gedichtband erschien, war eine Fügung – und ein Wink, es mit dem Dasein als freier Schreibender zumindest zu versuchen. Das tue ich seit nunmehr zehn Jahren in einer Art literarischer Dreifelderwirtschaft, das heißt: Als Übersetzer, Rezensent und mit den Gedichten selbst. W. H. Auden sagte in einem seiner scharfsinnigen Essays, dass niemand mit Gewissheit bestimmen könne, welchen Anteil an einem Gedicht das unterbewusste und welchen das bewusste Arbeiten habe; das Dichten sei zwar keine Tätigkeit wie das Tischlern, doch ein gewisses handwerkliches Element sei immer dabei. Dass ich den Wagner, den Wagenmacher in meinem Namen trage, jenen, der Hammer und Säge zu führen weiß und doch zugleich dafür sorgt, dass man die umliegenden Felder hinter sich lässt, den Mais und den Hafer, dass der Horizont erreichbar wird, und die Räder über die sichtbaren Grenzen hinausrollen können, erscheint mir in diesem Sinne nicht länger bedauernswert. Und dass Sie sich entschieden haben, diesen Namen in die Liste der Mitglieder Ihrer Akademie aufzunehmen, lässt ihn sogar ein bisschen leuchten.