
Literary scholar
Born 30/4/1956
Member since 2024
Sehr geehrte Damen und Herren der Akademie,
Ich heiße Vivi und bin sechs Jahre alt. Ich mag es nicht, dass man mich so nennt, das klingt wie Fifi, der Hund der Nachbarin. Ich bin schon froh, dass man mich nicht mehr Puppe nennt, wie in den ersten Jahren nachdem ich, drei Wochen alt, aus New York nach Wien gekommen bin. Ich schaue aus dem Fenster, nach oben auf die graue Spitze des Stephansdoms, nach unten auf die Auslage der rosa Konditorei, mit ihren Cremeschnitten und Sachertorten. Es ist genau jenes „Schaufenster mit Schokoladekuchen“, von dem Ilse Aichinger in Stadtmitte, dem Anfang ihres literarischen Wien-Rundgangs, schreibt, dass es „Vieles öffnet und Vieles verbirgt“. Davon weiß ich noch nichts, und auch nichts vom Motiv des Mädchens am Fenster, das von der weiten Welt träumt, während sie drinnen zur Höheren Tochter geschmiedet wird. Das wünschen sich meine aus der Tschechoslowakei stammenden Eltern, Edith, ehemalige Salamon, und Michael Lischka, eigentlich Fuchs, der diesen zu deutsch-jüdischen Namen verbergen musste, als er sich nach seinem Sprung aus dem Viehwagon Richtung Tod den Partisanen anschloss. Von der dunklen Sache, die sie überlebt haben, weiß ich auch noch nichts. Zu den Ritualen meiner bildungsbürgerlichen Erziehung gehören die Abende im Burgtheater und in der Staatsoper, auf Muttis Abonnementplätzen. Zumeist langweile ich mich, aber der Kristallluster der Oper glitzert und glänzt, und wenn Papageno singend fragt, ob denn keiner ihn befreien will, rufe ich lautstark „Ich“ aus der Loge. Beim allabendlichen Vorlesen von Struwwelpeter und Max & Moritz spüre ich das wohlige Fürchten, das überzeugender ist als die Moral von der Geschicht’. Das ist wohl meine Initiation in die Literatur – die Erfahrung, dass diese ergreifen und eingreifen kann in die Ängste und Wünsche des Wiener Mädels, das am Fenster von der weiten Welt träumt.
Mein Name ist Vivian Morsel, ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, jungverheiratet und Mutter von zwei Kindern, für die ich viel Liebe und wenig Geduld habe. Ich lebe in Antwerpen, wohin mich meine Heirat verschlagen hat, und studiere Englische Literatur an einem College für amerikanische, in Brüssel stationierte Soldaten. Statt Narratologie und Fußnoten lesen wir Romeo and Juliet mit verteilten Rollen, aber auch World Literature I und World Literature II, From Goethe to Dostojewski und From Kafka to Camus, alles auf Englisch und zur Identifikation angeboten. Gretchen, the Underground Man, K., Meursault, und Madame Bovary, c’est moi. Literatur ist noch unkompliziert Spiegel der Selbstsuche und Fenster zur Welt. Sie trägt mich hinaus, so weit, dass ich den Weg zurück kaum noch finde, weil ich, heimkehrend, nicht mehr dieselbe bin, die auszog das Fürchten zu lernen. Von Frauen, die ihr Leben ändern, lese ich und schreibe bald von ihnen. Meine Dissertation an der Universität Antwerpen heißt Die Moderne – ein Weib, es geht um deutsche Autorinnen der Jahrhundertwende, doch ihre Heldinnen bin ich nicht mehr, denn inzwischen bin ich Germanistin geworden und Germanistik, das ist Wissenschaft – nach dem Motto meines gestrengen Doktorvaters: „Distanz ist alles.“
Man nennt mich Prof. Dr. Vivian Liska, ich bin sechsundvierzig Jahre alt, Mutter von vier Kindern, die verhindern, dass mein Fenster zur Welt nur noch ein Computerbildschirm ist. Professor Dr., das klingt nach Hochstapelei, aber der Stress von Lehre, Forschung und allem anderen legitimiert schon bald den Titel. Nach einer Einweihung in die Lehre an meiner amerikanischen Alma Mater, wo ich unsicher von meinen Notizen lesend 160 GIs The American Short Story erkläre, unterrichte ich an der Universität Antwerpen Literaturtheorie, Adorno und Benjamin, Kafka und Celan. Ich publiziere Die Nacht der Hymnen, zu Celans Frühwerk, und vertiefe mich zunehmend in die Literatur zu dieser dunklen Sache. Etwas skeptisch gründe ich ein Institut für jüdische Studien, doch lehre ich, um nur ja die Distanz zu bewahren, auch Nietzsche, Uwe Johnson und den deutschen Expressionismus. Doch bald kristallisieren sich deutsch-jüdische Literatur und Philosophie zu meinem Korpus. Ich will mich nicht mehr finden, sondern, um mit Arendt zu sprechen, „ich will verstehen“. Der deutsche Titel meines Buchs When Kafka Says We lautet Fremde Gemeinschaft. Es geht um die Anziehungskraft und die Gefahren geschlossener Gemeinschaften, um die Mühe und das Privileg, in unvereinbaren Welten zu leben, um die Möglichkeit der Literatur, Grenzen zu unterwandern und zu überspielen, und, zwischen den Zeilen, um die Rückkehr aus der Distanz zur eigenen existentiellen Erfahrung.
Ich trage jetzt den achtunggebietenden Titel Prof. emeritus Dr. Vivian Liska, bin sechsundsechzig Jahre alt. Oft unterschlage ich den neuen Zusatz meines Titels, er klingt nach Brillenkneifer und Hörgerät, und sollte es nicht emerita heißen? Ich bin Gastprofessorin in Jerusalem und Yale, freue mich über meine neue Buchreihe und mein frischgegründetes Netzwerk Europäische Philosophie und jüdische Tradition. Der Titel meines Buchs Prekäres Erbe. Deutsch-jüdisches Denken und sein Fortleben bringt meine Befürchtungen für die Zukunft meiner Zunft – und nicht nur für sie – auf den Punkt. In einem fensterlosen Jerusalemer Schutzbunker lese ich meinen Enkelkindern Struwwelpeter und Max & Moritz vor, um ihnen und mir die ganz reale Furcht zu nehmen. Immer wichtiger werden mir die Kollegen, die Freunde, die Doktoranden, die Kreise von Gleich- und Andersgesinnten, mit denen ich mich gemeinsam freuen und fürchten kann.
Ich bin Vivian Liska, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und danke all jenen, die mich hierher geleitet und begleitet haben. Und Ihnen allen für die Aufnahme in diesen ehrwürdigen Kreis.