Arnold Stadler

Writer
Born 9/4/1954
Member since 1998

Georg-Büchner-Preis

Herr Präsident, meine Damen und Herren,

das Unglück zuhause, dachte ich, rührte allein von da, daß bei uns keine Palmen wuchsen. Meine Gegend war eine, in der das Heu nach der – unglücklichen – Liebe des Himmels zur Erde roch. Auf den Feldern fuhren Mengele‑Landmaschinen herum. Es waren dieselben Felder, auf denen kaum zwanzig Jahre vor mir andere, auch Polen und Russen, gearbeitet hatten.

Geboren wurde ich 1954 in Meßkirch in einen Kreißsaal hinein, der nun das Speisezimmer eines Altersheims ist. Das erste, was ich damals wohl hörte, war die Stimme der grobschlächtigen Hebamme, die nach der Schere rief, und ich bekam zum ersten Mal Todesangst. Meßkirch im Fleckviehgau, wie ich, weil uns ein Name fehlte, die Gegend selbst getauft habe, liegt auf halbem Weg zwischen Hölderlins oberer Donau, von ihm als Isther besungen, nicht weit von der Quelle, und dem Bodensee, ihr holden Schwäne, ihr gelben Rosen!, kaum zwanzig Kilometer sogenannte Luftlinie jeweils. Heidegger kam oder kommt aus Meßkirch, auch Kants Großmutter und andere. Am heute so genannten Heideggergymnasium ging ich 9 Jahre lang zur Schule, nein: von dort aus fuhr ich 9 Jahre lang immer wieder nach Hause. Denn ich hatte, stellen Sie sich vor, trotz allem, Heimweh nach meinem kleinen Heimatort, der Rast hieß, und ich war, trotz allem, noch lieber bei meinen Schweinen als bei meinen Mitschülern. Auf den Bus nach Rast wartend, der für die kleine Strecke eine Stunde benötigte, habe ich manchmal Heidegger gesehen, wie er mit seinem Bruder Fritz an uns vorbeiging. Vielleicht hat er uns für die Kinder der Letzten gehalten, deren Sprache noch heil war. Ich hatte von Anfang an von mir und meinen Menschen einen anderen Eindruck: die Sprache war meine erste Fremdsprache. Muttersprache und Fremdsprache fielen zusammen in meinem Mund.

Irgendwann war die Zeit in Meßkirch und in Rast zu Ende, und ich begann, trotz allem, mit dem Studium der katholischen Theologie in München. Später ging es oder ich nach Rom, dann nach Freiburg. Auch reiste ich nun in der Welt herum, vielleicht auch nur, weil ich 20 Jahre derart festgesessen hatte in Rast. Nach fünf Jahren verließ ich Theologie und Priesterseminar, fromm, wie ich gekommen war, und ungläubig. Ich hatte nun fünf Jahre für das Studium eines einzigen Buches, der sogenannten Heiligen Schrift, drangegeben, also begann ich noch einmal, wie man so sagt, ganz von vorne, bei Adam und Eva, mit der Literaturwissenschaft in Bonn und Köln. Da hatte ich, auf einmal im Prinzip alle Bücher vor mir, auch jenes eine. Aber nun stehe ich vor Ihnen, meine Damen und Herren, weil ich in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt worden bin. Das hängt wohl vor allem mit der Tatsache zusammen, daß ich eines Tages zu schreiben begonnen habe: ich weiß noch, es war kurz nachdem mir beim Füttern der Kühe mit Heu ein erstes Gedicht eingefallen war, ich weiß noch, ich hatte, während ich dichtete, eine Heugabel in der Hand, und ich war etwa zehn Jahre alt, und etwa so groß wie meine Kühe. »Alle Menschen müssen sterben« – das war die erste Zeile, und es folgte ein Reim, den ich nach der abendlichen Arbeit aufschrieb. Was reimt sich schon auf sterben! – kurz: ich wollte nur sagen, daß ich mein Thema gefunden hatte. Es dauerte allerdings über zwanzig Jahre, bis die dazugehörenden Bücher geschrieben wurden: Ich war einmal; Mein Hund, meine Sau, mein Leben; Der Tod und ich, wir zwei.

Dem Schreiben ging ein langes Lesen voraus, du liebe Zeit!

Das erste Buch, das ich gelesen habe, und von dem ich zehrte, war: Der Nachsommer, – das Geschenk meines gelehrten Großonkels, der allerdings kein Psychologe war – oder gewesen sein kann: Adalbert Stifter! – Ja, ich hatte einen Selbstmörder als Lebenshilfe.

Soweit zu meiner Herkunft.

Als ich vor kurzem eine Todesanzeige in meinem Briefkasten fand, erschrak ich. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gab den Tod des großen polnischen Lyrikers Herbert bekannt. Ich bin also nun auch an ein Verteilernetz angeschlossen, das mir in unregelmäßigen Abständen Mitteilungen, die vielleicht schmerzen, und in regelmäßigen Abständen Einladungen, die mich freuen, zuschicken wird und mehr.

Ich danke Ihnen.