Ernst Osterkamp

Literary scholar
Born 24/5/1950
Member since 2010

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich bin ein Leser. Alle beruflichen Entscheidungen in meinem Leben habe ich nur aus dem einen Grund getroffen, so viel wie möglich lesen zu können. Andererseits: Je älter ich werde, desto mehr drängt sich mir der Eindruck auf, dass ich nie im Ernste eine berufliche Entscheidung getroffen habe. Denn Professor für Neuere deutsche Literatur bin ich letztlich nur deshalb geworden, weil ich nichts anderes konnte. Dass ich tatsächlich das Einzige geworden bin, was ich hätte werden können, ist allerdings ein großes Glück.

Mein Glück beginnt mit meinem Geburtsort und Geburtsjahr. Geboren bin ich im Jahre 1950 in Tecklenburg, einem Ort im nördlichen Münsterland, auf einem Bauernhof unmittelbar an der Grenze zu Niedersachsen. Was konnte mir Besseres widerfahren, als fünf Jahre nach dem Krieg in der jungen Bundesrepublik geboren zu werden? Ich bin in dem Jahr, in dem die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung die Entscheidung getroffen hat, mich zu ihrem Mitglied zu wählen, 60 Jahre alt geworden; ich habe also 60 Jahre lang in Freiheit, Frieden und Wohlstand leben dürfen, und das hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Ich weiß, dass dies nach einer politischen Sonntagspredigt klingt, ich bin aber Historiker genug, um für diese Rahmenbedingungen meiner Biographie tief dankbar zu sein.

Die Geschichte des Bauernhofs, auf dem ich aufgewachsen bin und der immer Osterkamp hieß, lässt sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen; der Spruchbalken des Dreiständerhauses, den ich in meiner Kindheit täglich vor Augen hatte, trägt die Jahreszahl 1764 (in diesem Jahr erschien Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums, ein Buch, mit dem ich mich in späteren Jahren viel beschäftigt habe). Dass ich auf einem alten Bauernhof aufgewachsen bin, hat mir einerseits einen gewissen Realitätssinn verliehen, den man bei Literaturwissenschaftlern nicht zwingend voraussetzen darf, und mich andererseits mit einem sozusagen naturwüchsigen Geschichtsbewusstsein versehen, das mich im späteren Leben vor manchen literaturtheoretischen Komplikationen und Konfusionen bewahrt hat. Im Übrigen war mein Elternhaus hinreichend kompliziert, um mich mit jener produktiven Mischung aus Lebensangst und Lebenshunger auszustatten, die mich zum unersättlichen Leser gemacht hat.

Allerdings mangelte es in meiner Kindheit oft an Büchern. Das unfassbare Glück, das eine Buch, das ich zu Weihnachten geschenkt bekam, ist bis heute nicht nur in meiner Erinnerung, sondern in meinem ganzen Körper gespeichert: Der Schatz im Silbersee mit echtem Lederrücken und Lesebändchen, in herrlichster Geschmacksunsicherheit von der Deutschen Buch-Gemeinschaft ausgestattet und vertrieben: Das war ein Schatz, den man nicht nur lesen, sondern auch riechen, schmecken und streicheln konnte, zumal wenn man ihn mit ins Bett nahm. Seit meiner Kindheit weiß ich, dass alle Sinnlichkeit dieser Erde in einem Buch gespeichert sein kann. Man muss sie sich nur erschließen. Also wurde ich Literaturwissenschaftler.

Der Rest ist wenig interessant, weil professorenspezifisch. Studiert bzw. gelesen habe ich an der Universität Münster, dies seit dem Jahre 1968, wobei ich mich von der Dynamik dieser Jahre gern habe tragen lassen, wenngleich immer nur in dem wenig beeindruckenden Status des damals so genannten »bündnisfähigen bürgerlichen Intellektuellen«, der für die akademischen Gremien gebraucht wurde; es kann einem Schlimmeres widerfahren, als ein junger Achtundsechziger zu sein. Die wichtigste theoretische Prägung jener Jahre: Adornos Ästhetische Theorie, das wichtigste Hörsaalerlebnis: Hans Blumenbergs Vorlesungen. Die Spuren dieser Einflüsse lassen sich mühelos in meiner Dissertation über Darstellungsformen des Bösen am Beispiel des Luzifer- Mythos nachweisen.

Meine literaturwissenschaftlichen Lebensthemen habe ich aber erst auf den späteren Stationen meiner akademischen Laufbahn gefunden. In Regensburg, wo ich mich habilitierte, und danach in Berlin: die Literatur im System der Künste, dabei vor allem die Beziehungen zwischen der Dichtung und der bildenden Kunst; die Formgeschichte der Literatur; das Verhältnis von Literaturgeschichte und Literaturkritik. Der Autor, der mich am meisten beschäftigt hat, ist Goethe.

Als leidenschaftlicher Leser habe ich auch heute noch ein literaturkritisches Verhältnis zu den Texten, die ich doch eigentlich leidenschaftslos als Gegenstand objektiver Forschung betrachten sollte, und so ist meine akademische Lehre über Gebühr von der Tatsache belastet, dass ich meiner Freude über poetische Herrlichkeiten und meiner Enttäuschung über poetische Nichtigkeiten auch bei bedeutenden Autoren allzu umstandslos Ausdruck verleihe. Dass mir eine große Tageszeitung seit über zwei Jahrzehnten die Möglichkeit gibt, öffentlich über Neuerscheinungen nachzudenken: auch dies ist ein Glück. Zumindest für mich.

Nichts Geringeres als die Weltgeschichte hat dafür gesorgt, dass ich seit 1992 an der Humboldt-Universität zu Berlin lehren darf, und da es für mich keinen besseren Ort geben konnte als diesen, bin ich der Weltgeschichte für diesen seltenen Versuch in Großzügigkeit und heiterer Liberalität außerordentlich dankbar. Im Übrigen versuche ich, ihren zentralen Entwicklungstendenzen dadurch entgegenzusteuern, dass ich Studierende in der Kunst des genauen Lesens unterweise. Da sich sehr viele kluge und sensible Leser unter meinen Studenten befinden, bin ich vor den Anfechtungen eines kulturkritischen Pessimismus weitgehend geschützt.

Dennoch liegt, meine sehr verehrten Damen und Herren, trotz allen Glücks auf meiner Biographie ein tiefer melancholischer Schatten, der aus einem fundamentalen lebensgeschichtlichen Irrtum erwachsen ist: demjenigen nämlich, dass ich nur Literaturwissenschaftler zu werden brauche, um in meinem Leben hinreichend Zeit und Gelegenheit zum Lesen zu finden. Das Gegenteil ist der Fall. Aber dies ist ein so trauriges Thema, dass wir es lieber Germanistentagen anvertrauen wollen ‒ und nicht der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, bei der ich eigentlich nur sagen wollte, wie glücklich es mich macht, ihr angehören zu dürfen. Ich danke Ihnen.