Writer
Born 14/1/1896
Deceased 5/12/1983
Member since 1967
Das Band der Sprache
Sie kennen die Strophe aus Gottfried Kellers Gedicht »Gegenüber« in den Rhein- und Nachbarliedern, die lautet:
Wohl mir, daß ich dich endlich fand
Du stiller Ort am alten Rhein,
Wo ungestört und ungenannt,
Ich Schweizer darf und Deutscher sein.
Diese Verse wurden dem Dichter von manchen Zeitgenossen zum Vorwurf gemacht, aber ich glaube, es ist erlaubt zu sagen, bis zum Ersten Weltkrieg hätten sie bei den deutschsprechenden Schriftstellern der Schweiz ihre Gültigkeit gehabt. Sie begriffen diesen Ort weder geographisch, noch politisch – sie begriffen ihn literarisch. Dieser Ort, wo man ungestört und ungenannt durfte Schweizer und Deutscher sein, war die deutsche Sprache. In einem Radio-Interview, anläßlich der diesjährigen Buchmesse, bemerkte ein schweizerischer Verleger, die Schweiz müsse dagegen ankämpfen, um nicht als »provinziell« genommen zu werden. Vor dem Ersten Weltkrieg haben weder die Schweizer, noch die Deutschen die Schweiz literarisch als Provinz angesehen. Diesen Ausdruck verwendeten lediglich die Schauspieler, wenn sie an anderen Bühnen auftreten mußten als jenen in Berlin, u. a. eben auch in der deutschen Schweiz. Zwischen dem Wort »provinziell« und dem Worte »Provinz« besteht der gleiche Unterschied wie zwischen »province« und »Provence«. Man hatte in der deutschsprachigen Schweiz so wenig Bedenken als eine Provinz des deutschsprachigen Raumes zu gelten, wie unsere welschen confédérés als eine des französischsprachigen. Die Deutschen betrachteten die schweizerischen Schriftsteller Wedekind, Curt Goetz, S. D. Steinberg, Max Geilinger, Max Pulver, Heinrich Federer, Jakob Bosshart, Robert Walser ebensowenig als »provinziell«, wie sie die berühmten Tandems der schweizerischen Literatur Bodmer und Breitinger, Jacob Burckhardt und Heinrich Bachofen, Gottfried Keller und C. F. Meyer, J. C. Heer und Ernst Zahn, und neuerlich Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt als provinzielle Literaturerscheinungen angesprochen hätten. Ich glaube sagen zu dürfen, die literarische Osmose zwischen der deutschen Schweiz und dem wilhelminischen Deutschen Reich sei nahezu vollkommen gewesen. Thomas und Heinrich Mann, Brecht, Kafka, Jakob Wassermann, Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann – kurz die ganze Generation – gehörten zum Menü der literarischen Gerichte an der deutsch-schweizerischen Tafel. Als Schüler der zürcherischen Kantonsschule hatte ich während fünf Jahren als Deutschlehrer einen deutschen Dichter, Carl Friedrich Wiegand.
Wohl hatte sich nach 1918 das literarische Klima ein bißchen verändert. Der aus dem Nachkriegs-Deutschland hereinkommende Expressionismus entsprach der sozialen revolutionären Situation des Landes, aus dem er kam. Er wurde zwischen schweizerischen und deutschen Literaten ebenso brüderlich geteilt wie die damals in die Literatur einbrechende Psychoanalyse. Wer hätte vermuten können, welche Tragik diese fast idyllisch anmutende Sprachgemeinschaft in sich barg?
Nun, über die Schockwirkung, die Katastrophe, deren es bedurfte, um die zusammenhaltende Kraft des Sprach-Bandes zu lockern und zu lösen, brauche ich keine Worte zu verlieren. Es kam zwar um jene berüchtigte Zeit herum nicht zum Abbruch der zwischenstaatlichen Beziehungen beider Länder, wohl aber der literarischen.
Das alles ist Ihnen bekannt. Neu mag manchen unter Ihnen vielleicht dieses sein: daß, angesichts der sich ständig verstärkenden, politischen, ideologischen, kulturellen Bedrohung durch das sich uns immer mehr entfremdende Nachbarland, viele deutschsprechende Schweizer, um der Freiheit willen, sogar bereit waren, die deutsche Sprache aufzugeben. Diese geliebte Sprache war ja tragischerweise das Vehikel, mit dem das die Unabhängigkeit gefährdende Gedankengut über die Grenze kam, im gedruckten, im gesprochenen Wort.
Als dann eines Tages die Schweiz völlig von den Achsenmächten umklammert war, stellte bekanntlich das Alpenreduit die militärische Konzeption unserer Lage dar, und damals dachte ich, daß wir die rätoromanische Sprache, die von etwa 40000 Eidgenossen gesprochen wurde, dieser militärischen Verteidigung als kulturelles Pendant zur Seite zu stellen hätten. Sie wurde zur vierten Landessprache erklärt.
Entschuldigen Sie diese ein bißchen lang geratene Lageskizze. Ich kam nicht darum herum, weil ich Ihnen mit dieser, meiner »Vorstellung« eine Vorstellung davon geben wollte, was für ein merkwürdiges Vorhaben es für einen etwa fünfunddreißigjährigen Mann war, just zu jenem Zeitpunkt sich zum Stande eines freien Schriftstellers zu bekennen, und nach der Veröffentlichung des ersten Buches, 1935, bei der Stange, will sagen bei der Literatur zu bleiben. Hatten sich bis zum Beginn der dreißiger Jahre schweizerische Schriftsteller und Verlage theoretisch an einen Sprachraum von 40 Millionen Menschen wenden können, so schrumpfte diese Zahl nach 1933 auf etwa dreieinhalb Millionen Landsleute zusammen. Das entspricht im Falle eines sogenannten Erfolges einer Absatzziffer von kaum dreitausend Exemplaren. Jedenfalls blieb ein Schriftsteller, der also die Brücken zu einer gesicherten Existenz hinter sich abgebrochen hatte, vom Verdacht der Geschäftstüchtigkeit, der Gewinnsucht und des Strebens nach Ruhm frei. Aber das weiß ja ein jeder von Ihnen, die ich als Kollegen anreden darf: es gibt in unserem Tun überhaupt kein Entweder-Oder, keine Wahl, keine Option. Hier entscheidet, wie bei einer Eheschließung nicht das »ich«, sondern das »es«. Schriftstellersein ist das, was Cézanne vom Maler sagt: ein Temperament.
Immerhin muß gerechterweise erwähnt werden, daß in dem kleinen bedrohten Lande Schweiz sich lange schon die Erkenntnis gefestigt hatte, die Wahrung der Eigenart, die Bewußtmachung des So-, des Andersseins, die Gestaltung dieser Besonderheit sei für die Verteidigung und Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft ebenso wichtig, wie die bewaffnete Bereitschaft. In unseren kleinen Kreis zurückgeführt: die Schweiz war auf ihre eigene Literatur angewiesen, sie mußte sie pflegen, sie mußte mit den Mitteln an Bord durch den Sturm zu kommen suchen.
Selbstverständlich sind solche staatsbürgerlichen Aspekte und Forderungen kein Ausweis für das Ausharren. Aber das Metier eines schweizerischen Schriftstellers wurde nun übersichtlich, einfach, illusionslos. Er wußte, an wen er sich wenden mußte, konnte, sollte. Nolensvolens wurde der schweizerische Schriftsteller, der Erzähler vor allem, zwischen 1930 bis 1945 ein Lokalschriftsteller. Jetzt waren wir, literarisch gesehen, eine abgefallene oder noch nicht eroberte Provinz. Das mag ein Grund sein, weswegen wir vor dem Wort Provinz nie Angst gehabt haben. Im Gegenteil: diese Bezeichnung tut uns wohl. Unsere Anstrengung war nicht vergebens gewesen. Wir sind uns selbst geblieben.
Als der Alptraum zu Ende war, gab es in der Schweiz eine Schriftstellergeneration, die zu Deutschland keine Beziehung mehr hatte, weder persönlich noch beruflich, weder Abneigung noch Zuneigung. Jenseits der Grenze begann eine große Fremde. Es stand uns nicht an, die Deutschen anzusprechen, ihnen von Demokratie, von Freiheit, von Toleranz zu erzählen, ihnen gar mit Vorwürfen zu kommen. Uns geziemte Bescheidenheit, Dankbarkeit. Was zu tun war, den Ort zu finden, wo einer Schweizer und Deutscher sein durfte, das stand der neuen, gegenwärtigen Schriftstellergeneration zu, und ich denke, man kann es ohne Überheblichkeit sagen: sie haben etwas geleistet auf diesem Gebiet.
Es bleiben mir, um der Vollständigkeit dieser kurzen Vorstellung willen, noch ein paar Sätze zu sagen. Sie betreffen meine Zugehörigkeit zur jüdischen Konfession und zum jüdischen Stamm. Seit drei Jahrhunderten lebten meine Vorfahren in der Schweiz. Als der Staat Israel gegründet war, stellte sich auch mir, theoretisch, die Frage nach einer Entscheidung. Praktisch nie. Wie hätte ich nicht schmerzenden Herzens bewundern müssen, wie meine Glaubensbrüder ein Utopia zu verwirklichen im Begriffe waren, an das ich nie geglaubt hatte, und das zu schaffen ich nichts geleistet hatte! Aber für mich kam es zu spät. Dieses »zu spät« hat nichts mit der Zeit zu tun. Es bezieht sich auf eine andere Dimension. Hier kann ich einfachheitshalber die Worte einer meiner Romanfiguren zitieren:
»Wenn selbst in der Schweiz die Freiheit stirbt, hat das Leben seinen Wert verloren. Sei es hier, sei es in Amerika oder in Israel. Für mich wenigstens«.
Ich freue mich, daß wir das Räto-romanische nicht erlernen mußten und wir wieder deutsch reden können miteinander.