Navid Kermani

Writer and Orientalist
Born 27/11/1967
Member since 2007

Woher ich stamme

Da in diesen Tagen sehr viel über meine fremdländische Herkunft gesprochen und geschrieben wird,(1) werde ich mich bei meiner Einführung in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung schließlich doch dieser überaus heiklen und mir keineswegs angenehmen, ja mich peinlich berührenden Frage stellen. Ja, ich bin fremd, weil aufgewachsen im deutschen Mittelgebirge, genau gesagt in Siegen im Siegerland, wo die Menschen auf den Hügeln ringsum große Wälle in den Himmel hochgezogen haben, damit die Wolken ja nicht entweichen. Als Kind stellte ich mir das vor wie bei Asterix: Wir befinden uns im Jahre 1975 n. Chr. Über ganz Deutschland strahlt die Sonne. Über ganz Deutschland? Nein, ein kleines Dorf von unbezwinglichen Deutschen schafft es immer wieder, die Sonne zu vertreiben. Und ich war ihr kleiner iranischer Kriegsgefangener, der nur einmal im Jahr und das auch nur im Hochsommer, wenn sogar das Siegerland gelegentlich zwei regenfreie Tage in Folge zuließ, das Siegerland verlassen durfte und dann regelmäßig von seinen Eltern nach Iran verschleppt wurde – in die Wüste! Iran stellte ich mir immer schön vor – im Frühjahr. Im Sommer war es so heiß, dass das Wasser auf dem Weg vom Duschkopf zu meinem Kopf vertrocknete. So schien es mir jedenfalls. Vielleicht war es auch nur ein Wasserausfall.
Im nachhinein denke ich, dass meine Eltern den Zwang, im Sommer nach Isfahan zu fliegen, gut gemeint haben, sozusagen dialektisch. Ich denke, sie wollten mich an einen Ort führen, der so trocken war, dass ich mich gegen Ende der Ferien nach dem Regen in Siegen sehnen würde. Allein, der Plan meiner Eltern ging nur soweit auf, dass ich die Hitze Irans schrecklich fand. Nach Siegen sehnte ich mich dennoch nie. Es war einfach alles schrecklich.
Das ist nicht komisch. Nichts an Siegen ist komisch, das ist es ja. Die außerhalb Siegens oft belächelte Humorlosigkeit der Siegener, die mit ihrer ebenso berüchtigten Schweigsamkeit einhergeht, hat eine klare physikalische Ursache darin, dass man als Siegener überhaupt nie lernt, zu lachen, weil man in Siegen überhaupt nie lernt, den Mund aufzumachen, weil einem der Regen in den Mund tropft, sobald man den Mund aufmacht in Siegen, und man deshalb besser die Lippen stets zusammenpresst, nicht redet, zur Sicherheit auch die Augen schließt und im Bett abwartet, bis das Leben in Siegen zu Ende ist.
Ich habe nicht gewartet. 1987 gelang mir die Flucht. Besser geworden ist das Leben deswegen nicht. Denn je länger ich von Siegen fort bin, desto deutlicher wird mir bewusst, dass das Leben anders hätte beginnen können als in Siegen. Das geht nicht bloß mir so. Wenige wissen, dass der Philosoph Theodor W. Adorno eigentlich aus Siegen stammt. Der Beweis: Wie sonst hätte er wissen können, dass das Bewusstsein »gar nicht über das Grau verzweifeln [könnte], hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt«? Mit dem Grau, damit meinte er eindeutig Siegen. Ich denke, diese aufregende Entdeckung bedeutet einen entscheidenden Durchbruch in der Adorno-Forschung. Man kann nun die Negativität seiner Philosophie eindeutig lokalisieren. Jetzt muss man nur noch herausfinden, wie Adorno als Siegerländer auf die Dialektik kommen konnte. Mein Leben in Siegen war ohne jede Dialektik. Es war einfach nur grau, jeden Tag. Nur nachts war es schwarz.
Ich kann verstehen, dass Adorno nicht bloß seinen Nachnamen, sondern auch seine Herkunft verschwieg. Der Berufungskommission, der meine Bücher vorlagen, wird aufgefallen sein, dass auch ich den Ort meiner Geburt stets unerwähnt lasse in der biographischen Notiz. Man schämt sich einfach. Die Leute denken, ah, ein Iraner, wohnt in Köln, ist ständig unterwegs, ein Weltenbummler, Kosmopolit hieß es sogar einmal ironiefrei in der Überschrift einer sehr wohlwollenden Rezension, wo kommt er her, Isfahan? Persepolis? Köln-Nippes?, und dann sage ich »Siegen« und höre schon ein konsterniertes »oh« oder ein enttäuschtes »ach so«, »ach so, in Siegen, Siegen, das ist doch...« – »ja, genau, das ist...« hundertzehn Kilometer südlich von, hundertdreißig Kilometer nördlich von, hundert Kilometer östlich von, und rechts auf der Landkarte das braune Nichts. Man verliert seine Glaubwürdigkeit als Kosmopolit, wenn man zugibt, aus Siegen zu stammen.
Wirklich, ich sollte mich erkundigen, ob man sich als Schriftsteller einen zweiten Geburtsort in den Pass eintragen lassen darf, so wie man sich einen Künstlernamen zulegt, wenn man avantgardistische Lyrik schreibt, aber Klaus Müller heißt. Dann nennt man sich auch Samuel K. Müller, und schon steht man in einer Reihe mit Paul Celan. Bei der Gelegenheit würde ich dann auch meinen Namen ändern, Kermani sieht auf den Büchern immer aus wie Armani oder, noch schlimmer, Germany – unerträglich. Ach ja, und andere Bücher schreiben sollte ich auch, wenn ich schon dabei bin, das Leben erträglicher zu gestalten, die meinen sind immer so negativ. Um meinem Werk mehr Dialektik zu verleihen, müsste ich dann allerdings auch mein Leben eintauschen, was Aussicht auf Besserung nur für den Fall verspräche, wenn zugleich die Welt eine andere wäre, aber dann, wenn die Welt eine andere wäre, ja dann könnte ich auch ein anderes Leben haben mit anderen Büchern, einem anderen Namen und schließlich auch einem anderen Geburtsort. Es muss sich also nicht viel ändern, damit ich offen über meine Abstammung reden kann. Einfach nur alles.

(1) Anlässlich der Aberkennung des Hessischen Kulturpreises, die unmittelbar vor der Tagung verkündet wurde und ein bundesweites Medienecho hervorrief. Die Aberkennung wurde später rückgängig gemacht.