Heinrich Detering

Literary scholar, Poet and Essayist
Born 1/11/1959
Member since 1997

Als im Januar 1796 der preußische Diplomat Christian Wilhelm Dohm in Gleims Litterarischer Gesellschaft aufgenommen wurde, diese Halberstädter Akademie für Gelehrte und Dichter, da hielt er seine Dankrede über ein allgemeines Problem von Aufklärung und Literatur; genauer: Ueber Volkskalender und Volksschriften überhaupt. Freilich sprach er damit doch auch von sich. Nicht nur deshalb, weil er schließlich allein um seines Schreibens willen in diese Akademie aufgenommen worden war – er hatte außerdem die denkbar besten Gründe, für seine Selbstvorstellung gerade dieses Thema zu wählen.

Im Grunde verstand sich der Diplomat nämlich vor allem als ein Kritiker und Gelehrter, als »Schriftsteller« im weiten Verständnis des 18. Jahrhunderts. Professor war er gewesen, gemeinsam mit dem Freund Georg Forster in Kassel (nachdem er einen Ruf nach Kiel abgelehnt hatte), Publizist im gemeinsam mit Boie begründeten Deutschen Museum, Essayist und Übersetzer, hatte literarische Neigungen und Freundschaften gepflegt, die ihn in Verbindung mit einigen Größeren seiner Zeit, schließlich auch in ein herzliches Verhältnis mit dem ähnlich gesinnten Geheimrat in Weimar brachten, und war überhaupt zwischen den Fächern und Genres und Publikationsformen ein ernster Spaziergänger, wie sie das späte 18. Jahrhundert nicht bloß duldete, sondern sehr gern lustwandeln sah.

Dohms Halberstädter Rede entspringt dieser pluralen Erscheinungsform des Redners. Indem sie von »Volksschriften« zu handeln vorgibt, verteidigt – mehr noch: proklamiert sie die Verantwortung der akademischen Welt gegenüber einer bürgerlichen Öffentlichkeit, »Ideen mehr in Umlauf auch unter dem Publikum zu bringen, zu welchem diese auf andern Wegen nicht so leicht kommen würden«, in einer Sprache, die »edel und würdig, dabey aber in hohem Grade verständlich seyn müsse«. Als Ziele solcher Schriften benennt er, was man von einem Aufklärer erwarten darf: zuvörderst »Frohsinn«, dann »Uebung des geraden Menschenverstandes« und natürlich »Tugend« – vor allem und in summa aber dies: »Ermunterung zum Umsichsehn«. Neugier, heißt das, ist die Tugend, der er selbst folgt und an die er appelliert – das Vergnügen am anderen und an den anderen, weil es das andere und die anderen sind.

Ein Hermeneutiker ist dieser aufgeklärte Zeitgenosse Herders gewesen, sofern man darunter jemanden verstehen will, der sich schreibend und redend um das Verstehen und Erklären fremder Texte bemüht – was nicht nur in diesem Fall heißt: fremder Meinungen, Haltungen, Formen des In-der-Welt-Seins. Und die entdeckt der Redner in den Völkern und Kulturen Asiens und Europas so gut und so lebhaft wie in den Unterschieden zwischen lutherischen Protestanten (wie ihm selbst) und Katholiken und Moslems und Juden. Dohms Neugier eröffnet ihm die Wonnen der Verschiedenheit und Vielfalt, des mannigfaltigen Einzelnen und Besonderen. Gleichwohl läßt er es nicht beim Genuß bewenden, sondern wird, wie immer er sich auch äußert, zu einem Dolmetscher des und der Verschiedenen. Fast von selbst mußte es sich unter diesen Voraussetzungen ergeben, daß aus den Erfahrungen, mit denen sein Freund Moses Mendelssohn ihn konfrontierte, Dohms epochemachendes Emanzipationsprogramm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden hervorging. Das war die imponierendste und dabei doch beinahe (beinahe!) selbstverständliche Konsequenz jener Hermeneutiker-Ethik, die seine Akademie-Rede formuliert hat: »die große Gabe ..., in den Gesichtspunkt anderer hineinzugehn, ohne deshalb in dem von uns für wahr Erkannten irre zu werden«. Für ihn war diese Formel eine Umschreibung für die Literatur – eine Gabe mithin, die allen zureichend Leselustigen zuteil werden konnte und sollte. Wozu seine eigenen Publikationen nach Kräften beizutragen suchten mit ihrem Bunterlei aus gelehrten Studien und literarischen Essays und kritischen Streitschriften, aus Übersetzungen und kommentierten Neuausgaben bekannter Autoren oder zu Unrecht Vergessener.

Zwar folgte bei alldem seine hermeneutische Lust an der Differenz dem in der Halberstädter Rede zitierten Wort Albrecht von Hallers: »Wir irren allesamt, nur jeder irret anders«. Im Unterschied aber zu zeitgenössischen Spöttern wie zu allen künftigen Propheten einer »différence«, die im Prozeß der »différance« unaufhebbar bleiben sollte, vertraute er, aufgeklärt und naiv, auf die vielleicht unzugängliche, aber doch unaufgebbare Einheit des Subjekts, der Welt, des Wortes zumindest als notwendige Postulate und regulative Ideen. In der Akademie-Rede nannte er das (er hatte auch andere Begriffe dafür) »Einheit und Zusammenhang des ganzen Lebens«. Und da redet unüberhörbar, wie so oft in Dohms und nicht nur Dohms Texten, der entlaufene Theologe, der er als Literat – und als der er überhaupt erst Literat war.

Wenn ich angeben sollte, welchen Vorausgegangenen ich in meinen eigenen Arbeiten als Hochschullehrer, Literaturwissenschaftler, Essayist und Kritiker am liebsten nachginge, dann ließen sich einige hochberühmte Namen nennen. Der Name Dohms jedoch ist mir besonders lieb. Zwar hat er einen Ruf nach Kiel abgelehnt, den ich, aus Anhänglichkeit ans deutsch-dänische Grenzland, freudig angenommen habe. Aber immerhin dasselbe Gymnasium haben wir doch besucht, im lippischen Lemgo; an derselben Göttinger Universität studiert, wo er nur ein paar Schritte von meinem ersten Zimmer entfernt gewohnt hat, wo sein Mentor Lichtenberg hieß und meiner später Albrecht Schöne, aber das läuft ja doch auch beinahe auf dasselbe hinaus. Und noch als Göttinger Student habe ich dann Dohms ausgewählte Schriften in einem kommentierten Band herausgegeben, in einer ganz kleinen wissenschaftlichen Reihe. Diesem Buch sind inzwischen einige andere gefolgt, Abhandlungen, Übersetzungen, Essays; aber an diesem hänge ich. Aus Sentimentalität sicher, doch wohl auch eingedenk der hermeneutischen Primärtugend und Pflicht der memoria – als einer der Formen des Widerstands gegen das Vergessen, als philologischer Kleinarbeit gegen das Vergehen der Zeit.

Und dann gehört es ja zu den wunderbaren, wirklich wunderbaren Abenteuern der Hermeneutik, daß sie solche Bekanntschaften über die Zeiten hinweg stiften kann, wie wir, Herr Dohm und ich, sie hier gerade vorstellen. Und ich wünschte, ich könnte die (allein durch Liebe entschuldigte) Eitelkeit, die im Gebrauch dieses »wir« liegt, im Laufe meiner Arbeiten wenigstens verringern. Daß sie unerreichbar sind, gehört ja zur Natur von Vorbildern wie der Bescheidenheitstopos zur Selbstvorstellung. »Sie haben«, heißt das dann wieder in einer Antrittsrede Dohms, diesmal in der Kasseler Société des Antiquités, »die Gnade bewiesen, mich zum membre dieser erlauchten société zu ernennen. Ich bin dieser Ehre unwürdig ..., wenn ich die erlauchten Mitglieder ansehe, die mich umgeben und mich alle an Geist und Gelehrsamkeit übertreffen. Allein der Gedanke tröstet mich, daß dieselbe Gnade, der ich meine Wahl verdanke, auch meine schwachen Anstrengungen gutheißen wird, sie zu verdienen.« So getröstet endete Herr Dohm, und so dankbar.

Ich danke Ihnen.