Lutz Seiler

Writer
Born 8/6/1963
Member since 2011

Georg-Büchner-Preis

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Kollegen,

mein Jahrgang, 1963, war ein heute unvorstellbar geburtenstarker Jahrgang. Da es in meinem Alter einfach zu viele Kinder gab, eine regelrechte Kinderschwemme, wie öfters erklärt wurde, hatte man auch den Speisesaal unserer Schule zu einem Unterrichtsraum umfunktioniert. Die Essenausgabe wurde provisorisch im Keller eingerichtet. In einem Raum, der früher als Waschraum gedient hatte, lagen jetzt schmale, hölzerne Platten über den Waschbecken, die Wasserhähne waren abmontiert. Entlang der gekachelten, mit Spiegeln besetzten Wände saßen wir dann wie an langen, festlichen Tafeln, wenn auch nur einseitig, nur mit dem eigenen, fleckigen Spiegelbild als Gegenüber, in dem man oft etwas krank aussah und sich kaum wiedererkennen konnte. Als ich heute Morgen im Hotel in den Spiegel schaute, kam es mir erneut ganz unwahrscheinlich vor, dass ich es sein würde, der an diesem Tag vor einer Akademie zu sprechen hätte, und nicht Thorsten, Thomas, Uwe, Heiko, Andreas oder wie auch immer die Namen meines überfüllten Jahrgangs in der Regel lauteten.

Ich wurde in Gera in Ostthüringen geboren. Die ersten Jahre lebten wir auf dem Land. Meine Mutter arbeitete auf dem Bauernhof ihrer Eltern, mein Vater war Weber. Zum Zeitpunkt meiner Geburt holte er den Abschluss der zehnten Klasse nach, machte schließlich Abitur, studierte, und noch heute unterrichtet er Computersprachen mit so wundersamen Namen wie Oracle. Vielleicht besteht darin eine Art Erbteil. Auch ich begann mit einer Lehre als Maurer, arbeitete als Zimmermann, studierte dann Germanistik und – das sollte ich eigentlich nicht sagen – endete als Dichter, denn niemand kann wissen, was noch kommt. Ich erinnere mich, wie meine Mutter im Herbst 89 in einer Mischung aus Freude und Verunsicherung zu mir sagte: »Du hast ja noch dein ganzes Werkzeug, Junge!« – meine Wurzeln als Maurer schienen ihr unter allen Umstanden solide genug.

Dem Mauerfall ging zunächst eine andere Wende voraus: Mit 21 Jahren, während meiner Zeit beim Militär, begann ich zu lesen, gleichzeitig begann das Schreiben. Das Erlebnis des Lesens war eine Zäsur, es änderte mein Leben. Zuvor hatte nichts auch nur ansatzweise darauf hingedeutet. Zu Hause gab es keine Bücher, Literatur interessierte mich nicht. Und die Zeit beim Militär hätte man auch anders verbringen können, zum Beispiel mit Laubsägearbeiten, wie es die anderen zehn Männer taten auf unserer Stube. Das heißt mit der geduldigen Herstellung komplizierter Sperrholz-Szenen, ein endloses Sägen und Schmirgeln von Jägern, Tannen und Wildtieren, die im Ensemble etwas darstellten, das in meiner Thüringer Heimat als Weihnachtsschmuck beliebt ist: Schwibbogen, Kerzenhalter, Pyramiden. Ich habe Hunderte dieser Figuren entstehen sehen, genauer gesagt, entstehen hören. Nach meiner Entlassung musste ich mich zunächst daran gewöhnen, dass es ein Lesen gab ohne Späne und Holzbearbeitungsgeräusche im Hintergrund.

Anfang der 1990er Jahre lebte ich in Berlin, arbeitete als Kellner und bezog ein Promotionsstipendium. 1994 wurde mein Sohn geboren, wenig später fasste ich den Entschluss, meine Existenz als Schriftsteller zu befreien von dem halbherzig betriebenen Versuch, nebenbei eine akademische Laufbahn in Gang zu halten. Seitdem lebe ich freiberuflich als Schriftsteller, seit über einem Jahrzehnt im ehemaligen Haus des Dichters Peter Huchel in Wilhelmshorst, für dessen Anwesen ich Sorge trage – vom Beschneiden der Büsche am Zaun bis zu den Lesungen und Gesprächen, die an diesem Ort regelmäßig stattfinden.
Seit drei Jahren bin ich verheiratet, mit einer schwedischen Germanistin und Übersetzerin, und so ist mir Stockholm zu einer zweiten Heimat geworden. 1995 erschien mein erstes Buch, ein Gedichtband mit dem Titel berührt / geführt. Die Freude über das erste Buch war einzigartig und beinah unbelastet von weitergehenden Erwartungen; der Erfolg war, dass es erschien. Inzwischen sind sieben weitere Bucher publiziert, mit Gedichten, Essays und Erzählungen, darunter ein Erzählband mit dem Titel Die Zeitwaage – Liebhaber mechanischer Uhren wissen, dass es dieses Gerät tatsächlich gibt, es gehört zur Grundausstattung eines jeden Uhrmachers. Die Zeitwaage lauscht in die Uhr, in den Gang der Zeit, möchte man sagen, und ähnlich einem EKG des Herzens zeichnet sie auf, was nicht stimmt damit. Die Uhrmachersprache hat dafür Begriffe wie »schleifender Anker«, »fehlende Hemmung« oder »Momente, die schwanken«.

Das Schwanken der Momente: Auch wenn der Blick in den Spiegel noch heute auf ähnliche Weise befremdet, so bestätigt er doch, dass inzwischen viel Zeit vergangen ist. Ich sitze nicht mehr im Keller im Waschraum beim Essen, überfüllt mit den Kindern des Jahrgangs 63, nein, ich bin hier als Mitglied einer waschechten Akademie und darf mich freuen, Sie kennenzulernen und an Ihrer Arbeit teilzunehmen – dafür danke ich Ihnen.