Aleš Šteger

Writer
Born 31/5/1973
Member since 2017

Sehr geehrte Damen und Herren,
hochgeschätzte Akademie, liebe Freunde,
ich wuchs unter Riesen auf, in einem schwindenden Land. Zuerst war es das Schwingen der Krone des riesigen Nussbaums im Hof und das weiche Schweigen meiner Großväter, das mich umarmte und Geheimnisse lehrte. Das Andere und das Ferne, beides lag in dieser stillen Bewegung.
Der eine der beiden schweigenden Großväter wurde im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter in die Nähe von Dresden geschickt. Die Familie erfuhr erst nach seinem Tod, dass er, während des Kriegs auf einer Tankstelle arbeitend, mit der Tochter des Inhabers ein Kind zeugte, ein Mädchen, mit dem er nie gesprochen hat, womöglich anfangs auch nicht sprechen konnte und später wahrscheinlich nicht sprechen wollte.
Der zweite Großvater wurde als Matrose in die deutsche Kriegsmarine eingezogen, kam in der Nordsee fast um, flüchtete dann zuerst in die Wälder zu den Partisanen, flüchtete eineinhalb Jahre später wegen seiner Vorgeschichte als deutscher Soldat am Ende des Krieges wieder und versteckte sich unter den Bretterdielen des eigenen Hauses fast ein Jahr lang vor den kommunistischen Nachkriegssäuberungen. Auch er sprach nie darüber, sondern lächelte nur leicht, wenn man ihn fragte.
Zwei Riesen, zwei schweigende Riesen, die keine Auskunft über das Geschehen und ihre Erlebnisse geben wollten.
Wozu gibt es Sprache? Und welche Art von Sprache ist das überhaupt?
Es gibt viele Arten von Stille. Die Stille des sanften Schweigens meines Landes und der Orte, wo ich herkomme, hat den Duft wilder Reben, Apfelbaumblüten, Aluminiumfabriken und Grenzen.
In einem schwindenden Land aufzuwachsen bedeutet, überall auf Grenzen zu stoßen, überall Grenzen zu erfahren, sich auf Umgang mit Grenzen einzustellen.
Man blickt vom Hügel in die Weite, und da, wo die Koralpe noch im letzten Aprilschnee prangt und in der Weite eine Ahnung vom Balaton als optische Täuschung aufscheinen mag, spricht und versteht keiner deine Sprache und mit ihr auch die Stille nicht und nicht dein Schweigen.
Ich war achtzehn, da schrumpfte das langsam verschwindende Land meiner Kindheit ruckartig ein, zwei, drei Kriege, und weg war es. Übrig blieb ein Land, so groß, dass es in jede Hosentasche passt. Es ist besonders. Es besteht aus Grenzen, alles, alles wird in ihm zur Grenze.
In diesem Grenzland wuchs ich weiter unter Riesen auf, die sich dicht drängten. Sie hießen Dane Zajc und Tomaž Šalamun, sie hießen Lojze Kovačič und Srečko Kosovel und Edvard Kocbek. Und oft, allzu oft, trugen sie seltsame Namen wie César Vallejo, Olga Orozco, Federico García Lorca, Gottfried Benn, Paul Celan, Octavio Paz.
Wozu dann Schweigen?
Weder die weißen Katheder der Universitäten, die ich besucht habe, noch die absolvierten Studiengänge haben mich erzogen. Das Reisen, das Nichtwissen, das Lesen und die Begegnungen mit Menschen haben mich die feine, große Kunst gelehrt, wie man sich von Riesen und Grenzen nährt und doch stets hungrig bleibt.
Wie man nie aufhören kann, vielleicht auch nie aufhören darf, Anderes, Neues zu entdecken und dabei, mit Becketts Worten, neu und besser zu scheitern.
Ich habe gedichtet, habe übersetzt, habe Verlage gegründet und geführt, internationale Poetentreffen ins Leben gerufen und den Dichtern zugehört und ihnen Wein eingeschenkt, meistens reinen; ich habe Koffer gepackt, Bücher verschenkt, Totenreden gehalten und mich über unser Europa geärgert. Ich habe Pyramiden gebaut und geliebt und trotzdem allzu oft den Sonnenaufgang verschlafen, was ich als eines meiner größeren Versäumnisse empfinde.
Ich muss oft an Lorca denken, an dessen Theaterstück El público, in dem ich im Stadttheater von Ptuj als Sechzehnjähriger eine Rolle spielte, als zweites weißes Pferd.
Ich denke oft an Hölderlin. An den Hölderlinturm am Neckar und, unweit davon entfernt, an das Haus in Tübingen, in dem die erste slowenische Bibelübersetzung heimlich gedruckt wurde und in Heringsfässern nach Ljubljana geschmuggelt wurde.
So fängt es an, wenn man unter Riesen aufgewachsen ist, mit nach Heringen riechenden Büchern und den weißen Pferden Lorcas und den Grenzen in einem immer wieder sich selbst zum Schweigen bringenden Europa. Und dem seltenen, deshalb umso kostbareren Gefühl, aufgenommen zu werden, aufgenommen zu sein unter Riesen.
Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen von Herzen!