Christoph Hein

Writer
Born 8/4/1944
Member since 1992

Herr Präsident, meine Damen und Herren:

es überrascht, sich vorstellen zu müssen, da man eben dankbar vernahm, man sei gewählt, also doch bereits bekannt. Und so vermute ich, die Akademiemitglieder interessieren sich weniger für das, was sie ohnehin wissen und wohl zur Wahl führte, als dafür, wie sich der Kandidat selbst sieht. Unser Bild von uns verrät uns, denn über Biographien und Memoiren steht als ungenanntes Verdikt wohl stets jener Nietzsche-Satz: »Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach«.

Die Erde wäre in besserer Verfassung, wenn auf ihr solche prachtvollen Menschen zu finden wären wie so reichlich in den Memoiren.

Schriftsteller sind hierbei gewöhnlich in einer vorteilhafteren Situation. Sie sind gewiß nicht aufrichtiger und selbstloser, aber sie können der Wahrheit Masken geben, das macht es leichter, mit dem Herzen in der Hand zu sprechen. Denn wer einen Hamlet oder Richard III. zu schreiben vermag, steht ihnen wohl weniger fern, als er es seinen Mitbürgern ansonsten frei gestehen möchte.

Was ich über mich sagen kann, ich habe es bereits geschrieben. Was noch fehlt, ist mein Arbeitsmaterial für die nächsten Jahre.

Geboren wurde ich 1944 in einem schlesischen Dorf und mußte es verlassen, bevor es mir eindrücklich wurde. Ich wuchs auf in einer sächsischen Kleinstadt als Sohn eines Pfarrers, was der Staat als ein strafwürdiges Vergehen ansah und dazu führte, daß ich, um weiter eine Schule besuchen zu können, die DDR 1958 verlassen mußte. Nun in Westberlin lebend, besuchte ich mit anderen ehemals ostdeutschen Schülern, vor allem Kinder von Pfarrern und Ärzten, ein Gymnasium, altsprachlich natürlich, das hatte der Vater durchgesetzt, der auch einen Berufswunsch für den Sohn anmeldete. Nach wenigen Jahren gab es eine spektakuläre Aktion der Regierung der DDR , da sie uns offenbar nicht missen wollte, und die dazu führte, daß einige meiner Mitschüler zu Westdeutschen und die anderen repatriiert wurden, letztere freilich mit dem Makel einer zweiten zu bestrafenden Untat gezeichnet: illegales Verlassen des Staates.

Ich arbeitete in verschiedenen Berufen, weil mir das Abitur und später ein Studium mehrmals verboten wurden. Selbst ein Minister sorgte sich um den gerade Zwanzigjährigen, um Schaden vom Land, das durch dessen Studium entstehen könnte, abzuwehren. Und der verhinderte Abiturient und Student, angeregt und herausgefordert von einer geteilten Stadt, ließ sich auf Abenteuer ein, die ein Staatsanwalt wohl Beihilfe zur Republikflucht genannt hätte. Über all das habe ich vor Jahren geschrieben, und die Kunst half mir, daß es sogar veröffentlicht werden konnte. Schließlich ein Studium, Philosophie erst, dann Logik, nicht ganz freiwillig, aber die erwünschten Künste waren mir durch jenen Minister versperrt.

Nach dem Studium kam das Theater, denn seit meinem zwölften Lebensjahr, seit der Lektüre von Schillers Gesamtwerk in einem Band, war mein Beruf entschieden. Am Theater endlich fand ich einen, der mir half, Benno Besson, ich habe ihm viel zu verdanken. Als er das Land verlassen mußte, wurde es für mich wieder schwieriger. Verbote von Inszenierungen meiner Stücke auf der Sollseite, fünfzehn Verbote allein in zwei Jahren, in meinen sozusagen erfolgreichsten damals, auf der Habenseite Manuskripte, aber keine Alimente. An den Theatern gab es für mich nicht mal mehr die geschmähte Hintertür. Ich schrieb Prosa und klopfte damit an anderen Türen an.

In Verlagen traf ich mutige Leute, die den Kummer, den ich ihnen machte, ausdrücklich begrüßten. Für einen Roman beispielsweise, Horns Ende, kämpfte ein Verleger zwei Jahre erfolglos, dann ließ er ihn ohne Druckgenehmigung erscheinen. Dieser Roman ist meines Wissens das einzige belletristische Buch, das in einem DDR -Verlag trotz ausgesprochenen Verbots durch die Zensurbehörde erschien. (Wenn man von einer illegalen Klein-Auflage des gleichen Buches absieht, das anonym gebliebene Drucker ein halbes Jahr zuvor aus dem längst fertig gedruckten und eingelagerten Buchblock, versehen mit dem Cover eines unverdächtigen Unterhaltungsromans, herstellten und in die Buchhandlungen brachten. Den Staatsanwalt hätte ein Verweis auf eine alte Tradition wohl kaum beeindruckt.) Der die Herausgabe verantwortete, der Verleger Elmar Faber, weiß seitdem Erstaunliches vom Umgangston und Stil in den höchsten Kreisen eines Staates zu berichten.

In diesen Kreisen wurde in jenem Jahr 1985 entschieden, daß »der Fall Hein« gelöst wird. Ich wehrte mich dagegen, das Land zu verlassen, mußte aber die Erfahrung machen, daß man auch vor unangenehmeren Lösungsvarianten nicht zurückschreckte. Es gab Leute, die für mich eintraten. Einer der damals Mächtigen, Kurt Hager, erwiderte einem, der sich gegen eine »Lösung des Falles Hein« wandte: Auf einen Fall mehr oder weniger kommt es nicht an. Ein großer Satz, ein klassischer Satz, ein klassisch falscher Satz, wie sein Autor inzwischen wohl selbst weiß.

Geholfen haben mir in all den Jahren viele Menschen, ich versuchte ihnen zu danken, indem ich anderen half. Sogar drei Regierungen verwandten sich für mich, was außerordentlich ist und auch Außerordentliches bewirkte. Und ein europäischer Staat signalisierte mir, daß ich notfalls bei ihm willkommen sei. Darauf bin ich besonders stolz, denn es ist, wie wir alle wissen, in diesem Jahrhundert ein besonders kostbares Privileg.

Ich habe möglichst unbeeindruckt, doch aufmerksam weitergeschrieben, als Chronist sine ira et studio, was noch heute meine Arbeit ist.

Wichtig war es für mich, nein sagen zu lernen, was uns überall auf der Welt erschwert wird, da von Kindesbeinen an – durch Liebe oder Nötigung, durch Gewalt oder Verführung, die, wie Lessing sagt, die eigentliche Gewalt ist – immer nur unser Ja, unsere Zustimmung, gefragt ist. Freilich, ich hatte es leichter als andere, da vor meiner allerersten Entscheidung schon der Staat sein Nein gesagt hatte; das erleichtert vieles. Und ebenso wichtig war mir, vor dem Abgrund oder der Mauer, die stets einem Nein folgen, nicht zu resignieren oder gar zu verzweifeln, sondern ohne Haß und Eifer nach anderen Wegen zu suchen, die auch zum Ziel führen. Und ich denke, das ist der eigentliche Humor dieser Welt.

Ich danke Ihnen für die Aufnahme in die Deutsche Akademie.