Historian and Journalist
Born 13/2/1950
Member since 2007
Vom ur zum ff. Eine gekürzelte Geschichte
Lange Zeit bin ich morgens in die Redaktion gegangen. Ich ging gern dorthin, ich war Journalist mit Leib und Seele und verdanke den Zeitungen viel. Man konnte, wenn man wollte, und am entsprechenden Willen fehlte es mir nicht, dort viele wichtige Fertigkeiten lernen, zum Beispiel verdeckte Ermittlung, geheuchelte Empörung und pastorale Leitung des skandalisierten Bewusstseins, aber auch so nützliche Dinge wie allgemein verständliches Schreiben und das sichere Setzen von Pointen. Man erlernte die Kunst der nicht-justiziablen Beleidigung und die der schnell und elegant geführten Intrige (auf die zähe Variante verstehen sich alle Institutionen von Natur aus). So gab es viele interessante Fächer im Curriculum dieser Schule, und durchgängig ging es um Stil und Bosheit, denn alle diese Fächer lagen, im Idiom meiner Studentenjahre gesprochen, im Spannungsfeld von Schrift und Macht. Da ich mich als einen der letzten frei lebenden Strukturalisten Europas betrachtete, musste mich dieser Lehrplan begeistern; ich lernte begierig und rasch.
Die Schule, in die ich eingetreten war, kannte auch ein kleines Zeremoniell der Investitur. Man bekam zwar keine Schuluniform, dafür aber einen neuen Namen. Eigentlich war es kein Name, sondern nur dessen Rudiment, ein Kürzel, wie es jeder Journalist und Redakteur braucht, um damit die kurzen Artikel, die Glossen und Meldungen zu signieren. Obwohl ich zwecks Eintritts in die betreffende Redaktion nicht den Äquator, sondern bloß den Limes überschritten hatte, fand ich das Ritual ganz passend, zumal mir gestattet wurde, mich an der Findung meines künftigen nom de plume zu beteiligen. Ohne langes Zögern wählte ich meine Initialen, ein U und ein R, und zwar in der modernen Form der Kleinschreibung. Das erwies sich als einer der ersten von zahllosen Fehlern, die ich noch machen sollte, denn die gewiefteren unter meinen Kollegen hatten instinktiv erkannt, dass Kapitälchen sich dem zerstreuten Blick des Lesers stärker einprägen und ein Punkt am Ende des Kürzels »interessant macht«.
Abgesehen von seiner unscheinbaren, schmuck- und punktlosen Neusachlichkeit war mein Kürzel ganz in Ordnung. Es evozierte nicht nur die ältesten und allenfalls im Kreuzworträtsel noch lebenden Rindviecher Germaniens; es stand praktisch für alles, was steinalt, vorzeitlich und irgendwie abgründig war, den Ur-Sprung, den Ur-Wald, den oder das Ur-Laub (ich grüße die Manen von Heinz Erhardt), den Ur-Quell und die Ur-Suppe. Das Historische Wörterbuch der Philosophie, Band 11, U bis V, kennt immerhin 24 Lemmata, die mit »Ur« beginnen, von der Ur-Banität bis zur Ur-Zeugung. Darunter befinden sich so bedeutende Begriffe wie die Ur-Pflanze, die Ur-Sache, das Ur-Teil und das irgendwie nebulöse aber viel versprechende Ur-Wissen. Zwei Buchstaben, man sieht es, genügen als Zauberspruch, und eine ganze Hinterwelt von Denken und Leben, Natur und Geschichte tut sich auf.
Sieben glückliche Jahre lang streifte ich als Ur-Vieh durch den Blätterwald, bis es mir eines Tages einfiel, die Seite zu wenden und das Blatt zu wechseln. Auch die neue Zeitung, für die ich fortan schreiben sollte, besaß die Einrichtung des Kürzels. Allein, wer ermisst mein Erschrecken, als ich feststellte, dass mein vertrautes und mittlerweile geliebtes Kürzel bereits vergeben war: Ein älterer Kollege führte es seit Jahren. Um eine Verwechslung auszuschließen, musste ich mich umtaufen, und diesmal fiel mir die Auswahl schwer. Vom Nominalismus der Anfänge abgeschnitten, entschied ich mich schließlich für den der Enden und wählte als neues Kürzel die beiden abschließenden »F« meines Nachnamens, wiederum in Kleinschreibung und ohne Punkt, versteht sich.
Auch dieses bescheidene Buchstabenpaar, ein schlichter verdoppelter Konsonant, hatte es in sich. In den Anmerkungen eines wissenschaftlichen Texts verwies es auf unbestimmt viele folgende und der aufmerksamen Lektüre empfohlene Seiten, auf dem Kommandomanual eines Schiffes bezeichnete es die Gangart fast forward, also rasche Vorwärtsbewegung, und in den nach Tiron, einem Sekretär Ciceros, benannten Noten, einem Kurzschriftsystem, welches das Römische Reich um etliche Jahrhunderte überleben sollte, stand es für filii. Ähnlich wie bei meinem alten Kürzel erwies sich auch bei diesem eine unscheinbare Buchstabenfolge als die schmale Pforte zur Semiose, zum chaotischen und paradiesischen Gewimmel von Tieren, Söhnen, Zuständen, logischen Sequenzen und Phänomenen sonder Zahl.
Mit der Formel »expression through compression« hat der Architekt Frank Lloyd Wright einmal einen seiner ästhetischen Kunstgriffe charakterisiert: Man setze einen Raum oder eine Passage unter Druck, und alsbald verändert sich dessen (oder deren) ästhetischer Ausdruckswert und damit auch die Stimmungslage des Bewohners oder Passanten. Ähnlich verhielt es sich offenbar auch mit den zu Kürzeln komprimierten Namen der Autoren; unter dem Druck der buchstäblichen Reduktion entfaltete sich die wilde Komplexität möglicher Bedeutungen. Ein unerwartetes Glücksgefühl überkam mich, als ich zum ersten Mal mit meinem neuen Kürzel zeichnete: Ich war Ochs gewesen, jetzt sollte ich leicht und schnell werden wie die Söhne des Windes. Ist nicht eben dies die Metamorphose, von der wir träumen, wenn wir schreiben? »Alles Göttliche und alles Schöne ist schnell und leicht«, sagt Friedrich Schlegel.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.