Writer
Born 30/8/1945
Deceased 12/1/1998
Member since 1993
Sehr geehrte Damen und Herren!
In einer Erzählung von Jorge Luis Borges wird der neunzehnjährige Ireneo Funes vom Pferd abgeworfen, bleibt für immer lahm und gewinnt dafür ein unfehlbares Gedächtnis. Von da an erlebt er die Welt mit einer quälenden Deutlichkeit, vergißt nichts.
»Nicht nur machte es ihm Mühe zu verstehen, daß der Allgemeinbegriff ›Hund‹ so viele Geschöpfe verschiedener Größe und verschiedener Gestalt umfaßt; es störte ihn auch, daß der Hund von 3 Uhr 14 Minuten (den er im Profil sah) den selben Namen führen sollte, wie der Hund von 3 Uhr 15 Minuten (den er von vorn gesehen hatte). Sein eigenes Gesicht im Spiegel, seine eigenen Hände überraschten ihn immer wieder...«
Seine Gegenwart und alle seine Erinnerungen stehen ihm in jedem Augenblick unerbittlich vor Augen, Ohren und allen seinen Sinnen. Daß er sich infolge seines Unfalls kaum noch bewegen kann, nimmt er nur flüchtig hin, am Rande, fast mit Erleichterung.
Mit einundzwanzig Jahren stirbt Ireneo Funes, zerbröckelt unter dem ununterbrochenen Anprall Tausender von Wahrnehmungen, von denen er keine wieder vergessen kann, mit einem Gesicht, »älter als Ägypten, früher als die Prophezeihungen und die Pyramiden«.
Ich habe ihn um mehr als das Doppelte überlebt, ich bin auch nie vom Pferd gefallen und merke mir neben ihm wenig. Aber einiges bleibt.
Mit fünf Jahren erlebte ich das Kino. Geboren am 30. August 1945, knapp nach dem Krieg, in Prag. Es war in Karlsbad, es lief ein ›populär-wissenschaftlicher Film‹: Biber, die Talsperrenbauer. Ich erinnere mich, daß mir der flache Schwanz der Darsteller fast ekelhaft war, sonst fand ich sie, wie alles, was Pelz trug, unwiderstehlich, wenn auch nicht so schön wie meine Katzen. Als der Protagonist von einem brennenden Baum getroffen wurde, bekam ich einen Anfall und der Vater mußte mich heulend aus dem Saal hinaustragen.
Seitdem war ich süchtig. Ich schwänzte später Schule und während des Studiums Vorlesungen und ging ins Kino, auch mehrmals am Tag. Der getötete Biber, so nahe und lebendig gezeigt, hat für mich eine Welt der Bilder aufgetan, die mich nie wieder verließen.
Die Sprache war schon vorher da. Ich saß unter dem Tisch und spielte allein, während die Geschwister in der Schule waren. Märchen waren mir zu verständlich, aber der Wasserstand der böhmischen Wasserstraßen »heute um sieben Uhr früh« und die Wettervorhersage faszinierten mich.
»Der Ausläufer eines Sturmtiefs über der Biskaya« ist eine Formel, die es mir bis heute angetan hat; ich hatte keine Ahnung, was sie bedeutete. Im Tschechischen sagte man »Furche des Tiefs«.
Ein literarischer Hufschlag ereignete sich mit dreizehn. Ich las Dostojevskij. Arme Leute, trotz des Lobs von Belinskij, langweilten mich, ich wurde ungeduldig; seitdem hält meine Abneigung gegen den Briefroman an. Aber Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Verbrechen und Strafe, Die Brüder Karamasoff, Der Idiot hatten nichts Biederes, nichts Retardierendes.
Die Dämonen sind für mich ein Monolith, der auch nachträglich nicht verrückt oder weniger sichtbar wird – der letzte, vielleicht absolute Roman.
Nach drei Jahrzehnten finde ich bei Thomas Bernhard dieselbe Erschütterung: in der Kälte, inmitten seiner Pneumotorax-Anfälle – diese ungeheure Begegnung, als er »Die Dämonen« entdeckt.
Anläßlich einer biographischen Bilanz habe ich vor einigen Jahren mein Leben in drei Abschnitte gegliedert, entsprechend meiner Lektüre:
von 13 bis 23: Dostojevskij und die Russen überhaupt; reine Rezeptivität; ich las und las und war für leichtere Kost nicht mehr zu haben.
23-33: Kafka. Theoretisches Hadern, Essays, Beginn der Prosa. Dazwischen lagen literarische Seminare in Kassel und Bremen, meine erzwungene Umsiedlung aus Prag nach Deutschland, davor ein Studium in Prag und die Promotion über den »Coriolan« von Shakespeare und von Brecht.
Ich sehe, ich bewege mich rückwärts.
33-43: Arno Schmidt – und die anderen Großen, die er mitbrachte – Moritz, Tieck, Jean Paul.
Was bleibt nach diesen ›Dekaden‹, die sehr lose festgelegt sind, mit Überlagerungen, Wiederholungen, Süchten? – Alle drei. Wenn ich in den Dämonen blättere, lese ich mich fest und bin tagelang, auch nach der Lektüre, nicht ansprechbar. Bei der Beschreibung des nicht stattgefundenen Kampfes in Kafkas Bau tauche ich in die unterirdischen Gänge des Tieres ein, fürchte mich mit ihm und berausche mich an der Sprache. Ich lache jedesmal, wenn ich Arno Schmidt lese – vielleicht immer mehr. Über den Begriff ›deutscher Humor‹ wird leichtfertig gewitzelt. Dann kennt man Jean Paul nicht und Arno Schmidt, Tieck, Heine, Karl Kraus. Ich wüßte nicht, wann ich mehr gelacht habe als bei der Fahrt des Feldpredigers Attila Schmelzle nach Fläz – und genauso tief erschüttert hat mich der Tod des Schulmeisterleins Wutz aus Auenthal.
Meine Favoriten neben den Dreien kommen in meinen Texten immer wieder vor: Shakespeare, Borges, Pynchon, Nabokov, Frazer, Lévi-Strauss. Von meinen Landsleuten: Božena Němcová, Karel Hynek Mácha, Jaroslav Hašek, Ivan Klíma. Aber auch die nationale Erweckerin Magdalena Dobromila Rettigová, Verfasserin eines berühmten Kochbuchs, und der Physiologe Jan Evangelista Purkyně, die sich über das Hirn unterhalten. Rettigová verbreitet Rezepte für Hirnpuddig und Hirnhaché, Purkyně spricht von Axonkollateralen, Neuronen, Fasern. Beide verderben den anderen den Appetit.
Zwei Texte hätte ich gern selbst geschrieben: Die Maske von Stanisław Lem, Pale Fire von Vladimir Nabokov. Das heißt, der Duktus, der Gedankengang, der Komplikationsgrad dieser Texte sind mir vertraut. Arno Schmidts Schule der Atheisten, die ich liebe, hätte ich nicht schreiben können.
Ich habe geschrieben: sechs Bücher, deutsch: vier Prosabände Eine Schädigung, Pavane für eine verstorbene Infantin, Die Fassade, Treibeis; einen Band Essays, einen Band Stücke Unter Menschenfressern.
Die letzten zwei Romane Die Fassade und Treibeis haben Schnee, Kälte, Eis und Weite gemeinsam. Ihr Zentrum, wenn auch selten berührt, ist Prag. Alles, was ich schreibe, was mich bewegt, kommt aus dieser Stadt, im Guten und im Bösen. Ich bin für jede andere hoffnungslos verloren.
Das Deutsche ist für mich als Tschechin die einzige Möglichkeit, über Themen, die mich bewegen, zu schreiben. Es ist logisch und ermöglicht mir eine Distanz, die ich zum Schreiben brauche. Ich bin in dieser Sprache freier, ich freue mich über die Möglichkeiten, die sie mir bietet.
Ein Beispiel: Der erste Teil meines Romans Die Fassade, betitelt »Böhmische Dörfer« (er spielt in Böhmen; der zweite Teil, der in Sibirien spielt, heißt folgerichtig »Potemkinsche Dörfer«) konnte in keine andere Sprache adäquat übersetzt werden. In den elf Übersetzungen gab es Kompromisse und Niederlagen in Form von Anmerkungen und Fußnoten. Die Tschechen haben ›spanische Dörfer‹, die Franzosen ›arabische‹, für die Engländer ist alles ›griechisch‹ – it’s all Greek to me. Die Doppelbödigkeit des Begriffs – daß etwas verrückt, fern und unverständlich ist, und gleichzeitig wie bei mir wortwörtlich in Böhmen spielt, konnte nicht aufgefangen werden. Schon allein aus solchen Gründen möchte ich meine literarische Sprache nicht mehr ändern. Ich verdanke ihr viel, diesem Deutsch.
Worüber ich schrieb, war neben Sibirien, Grönland und Japan immer wieder das Land, aus dem ich komme, die Tschechoslowakei. Seit es sie nicht mehr gibt, komme ich mir deplaziert, verlassen vor.
Worüber kann ich noch schreiben?
In Kosmas oder Vom Berge des Nordens läßt Arno Schmidt einen alten Mann seinen Adepten belehren, was das Fundament des Lebens sei: »Landschaft; Intellekt; Eros! – Laß Dir das nie verleumden!«
Ich bin versucht, mit dem jungen Lykophron zu versprechen: »Lasse ich nicht.«
Es ist mir eine Ehre, in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen zu werden. Ich freue mich und danke Ihnen.