Writer and Journalist
Born 20/5/1908
Deceased 10/8/1991
Member since 1964
Herr Präsident, meine Damen und Herren, es ist mir eine hohe Ehre, künftig der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung als ordentliches Mitglied anzugehören. Ich danke Ihnen für Ihre Wahl. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß ich die Wahl meinen Bemühungen um die Analyse und Deutung bestimmter symptomatischer Wendungen und Formen der deutschen Sprache der Gegenwart verdanke. In diesem Sinne bin ich gern bereit, an den Arbeiten der Akademie mitzuwirken.
Da es mir im Rahmen dieser Sitzung weder möglich noch erwünscht erscheint, die Prinzipien einer Sprachbetrachtung in der verwalteten Welt darzulegen, und da ich dies in meinem Buch Sprache in der verwalteten Welt versucht habe, erlauben Sie mir, daß ich, als neues Mitglied mit den hier üblichen Gebräuchen noch nicht vertraut, an einem Beispiel in improvisierter Rede andeute, wie ich mir fruchtbare Arbeit an der Sprache der Gegenwart vorstelle. Als Zeitungsmann erhalte ich – wie wohl auch meine Kollegen in verwandter Position – viele Leserbriefe vorzugsweise zu Problemen der Sprache und der Sprachkritik. Vor kurzem schrieb mir ein Leser aus Düsseldorf von einem Vorfall und schloß daran eine so treffende Sprachkritik und mehr an, daß ich Ihnen dieses Exempel hier weitergeben und mich damit vielleicht einfach und kurz verständlich machen kann. Der Leser und Briefschreiber schildert folgendes Erlebnis:
Er geht in Düsseldorf über eine belebte Straße der City. Plötzlich hört er das bekannte unangenehme Quietschen und Knirschen angezogener Autobremsen und das schleifende Geräusch von Gummireifen, die scharf gebremst über trockenen Asphalt rutschen. Der Mann wendet den Kopf, sieht Leute zu den Autos eilen. Der Zusammenstoß war ausgeblieben. Es hat keinen Knall gegeben. Aus dem ersten der beiden Wagen steigt ein Herr, Mitte 40, elegant, Erfolgstyp, lässig – es ist ja noch mal gut gegangen. Aus dem zweiten Wagen steigt ebenfalls ein Herr, Mitte 40, Erfolgstyp wie Nummer eins. Nummer zwei eröffnet den Dialog mit folgendem Satz: »Sie können doch nicht im Cityverkehr eine Vollbremsung durchführen.« Nummer eins, der Vollbremser also, auf den der Wagen 2 um Haaresbreite aufgefahren wäre, nimmt den Dialog auf. »Irrtum«, so etwa führt er aus, »selbstverständlich kann, ja muß ich gerade im Stadtverkehr eine Vollbremsung durchführen, wenn – « usw. usw.
Der Beobachter der Szene teilte mir mit, daß die Diskussion der beiden Autofahrer etwa zehn Minuten lang mit dem und um den Begriff »Vollbremsung durchführen« geführt worden sei.
Der Briefschreiber knüpfte an das Erlebnis die Spekulation, von dieser Akten- und Verordnungssprache führe ein direkter Weg zur »Endlösung der Judenfrage« unseligen Angedenkens.
Diese Schlußfolgerung ist ganz gewiß utriert und jedenfalls nicht beweisbar. Doch scheint mir das Exempel überaus geeignet, ein Problem sichtbar zu machen, das zu den dringlichsten gehört. Ich möchte es das Problem des situationsangemessenen Sprechens und Redens nennen. Es ist ja nicht so, daß eine Aktensprache oder Registriersprache, weil sie subsumptiv ist und Akzente der »Menschlichkeit« nicht aufweist, darum gleich ins Wörterbuch des Unmenschen eingetragen werden müsse.
Die Benennung von Dingen, Vorgängen, Personen, Gedanken, Empfindungen durch Sprache ist im Zeitalter der sogenannten Massen ein besonderes Problem geworden. In der Statistik, in der Registratur, Kartothek oder im elektronisch gesteuerten Apparat ist das Einzelne, Konkrete nur eine Kartei- oder Lochkarte, ein Vorgang, ein Schnittpunkt von Koordination. Es hat seinen Sinn, daß die den Massenverkehr regulierenden Behörden Vollbremsungen von Mittelbremsungen und, was es einschlägig noch geben mag, unterscheiden. Der Verkehrsrichter, die Versicherungsgesellschaften, die Konstrukteure, die Fabrikate und die Monteure brauchen solche Vokabulaturen.
Das Leben aber, die unmittelbare Situation, in der Menschen agieren und reagieren, bedarf einer anderen Sprache. Denn die Sprache der Registratur registriert, sie trifft nicht das Wirkliche, Gelebte, Erlittene.
Aus solchen Gesichtspunkten wäre der Disput zweier Autofahrer in Düsseldorf zu bewerten. Es wäre zu fragen, wie in den Familien, in den Schulen und in Schulaufsätzen gesprochen und geschrieben wird. Oder sollten wir zuvor sagen, wie gedacht und gefühlt wird? Es wäre dasselbe.
Ich habe Ihnen mit meiner kleinen Improvisation andeuten wollen, wo etwa ich Möglichkeiten der Mitarbeit an der Tätigkeit der Akademie sehe.