Poet, Essayist and Translator
Born 24/7/1973
Member since 2021
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich heiße Anja Utler, ich bin Dichterin, und als ich ein Kind war, habe ich mir eine Tarnkappe gewünscht.
„Als ich ein Kind war, habe ich mir eine Tarnkappe gewünscht“ – dieser Satz erreicht im Ranking der Tarnkappensurrogate keine Top-Platzierung. Ich hätte ihn deshalb auch lieber umgangen. Aber jedesmal, wenn ich mich in meinem Hirn aufmachte nach „Vorstellungsrede“, verzweigte sich bald der Weg und alle Wegweiser zeigten auf „Tarnkappe, Kindheitswunsch nach einer“.
Keine Spur also von jenem ‚guten Fortkommen‘, für das die Tarnkappenidee doch einmal hatte sorgen sollen. Würde nämlich, beispielsweise, unser Einfamilienhaus in Fronberg, am Rand der bayerischen Kleinstadt Schwandorf, eines Tages belagert, wäre ich, anders als die Schlossbewohnerïnnen während des 30jährigen Kriegs, nicht darauf angewiesen, dass zwischen Schloss und ausgelagertem Galgenbuckel ein Geheimgang existierte, sondern ich könnte durch die Reihen der Belagerer unbehelligt hindurchspazieren. Könnte ich. Dieses locker entkommende ‚ich‘ allerdings sirrte ein wenig, denn: bliebe es dann allein? Oder könnte mein 1-Frau-Tarnding, geschickt aufgesetzt, meine Schwester und mich in ein erschreckendes Doppelwesen verwandeln, eine sichtbare Hälfte links, eine andere rechts und dazwischen ein Streifen Unsichtbarkeit? Bräuchte es nicht eigentlich 2 Tarnkappen?
Jeder Dreh förderte etwas zu Tage, das sich mit dem Rest spießte; bis die Sache an einen Punkt geriet, wo sie auseinander fiel. Ungefähr dort nämlich, wo klar wurde, dass es „Tarnkappe“ nur in Serie geben dürfte, und wo ich mich auch darüber wundern konnte, wie mühelos diese Jahrhunderte alte Belagerungs-Saga präsent gehalten werden konnte, während die Berichte über die erst wenige Jahrzehnte zurückliegenden Todesmärsche durch die Flussauen unterhalb des fraglichen Schlosses das allgemeine Gedächtnis anscheinend nie erreichten.
Aber bis zu diesem Splitterpunkt war es weit. Inzwischen drehte ich das Tarnkappenspielzeug im Kopf weiter und ich glaube, davon erzähle ich Ihnen nicht nur, weil das eine Art Sichtbarkeitszauber war, für Trennlinien und Unterschiede, eine Vorbereitung fürs spätere Lektüre-Sammelsurium, wo dann etwa Barbara Köhler in Tuchfühlung geriet zu Marina Cvetaeva zu Lev Vygotskij, oder Laurence Sterne zu Daniela Hodrová zu Hans Jonas, oder Sybille Krämer zu Anne Carson zu Brigitte Oleschinski. Sondern auch, weil bei mir der Entschluss, Poesie zu schreiben, zu übersetzen, ihren Wirkprinzipien nachzuforschen, verschwistert ist mit diesem Wunsch, nicht sichtbar zu sein. Das Drehen und Wenden der Tarnkappenfantasie jedenfalls ergab, dass die ausgedachten Realitätsproduzenten besonders gut auf sie reagierten, etwa die nahegelegene deutsch-tschechoslowakische Grenze, dass sie Gegebenheiten wie den Fluss Naab dagegen unbeeindruckt ließ. Am Mäandern der verschiedenen Grenzen durch das physisch Vorhandene ließ sich entlang subtrahieren: Wenn man einem Körper die Sichtbarkeit wegnahm, wie würde er berühren, gehört werden, riechen? Ich sah, wie sich im Alltag die Sätze auf die lebenden Dinge setzten wie Ranken aus kleinen, schiefen Tarnhütchen. Wie sich die Dinge unter ihnen bewegten, teils in die Sicht- oder Riechbarkeit, teils aus ihnen in eine nicht-Barkeit, wie die Verteilung flirrte. Ich spürte, wie sich dieses Gefunkel meinem Zugriff entzog, selbst aber durch mich hindurchlief, mich bildete, wie sonst Wasser oder Luft. Ich merkte, wie meine erste Zweitsprache, das Englische, ihre Hütchen in etwas verschobenen Winkeln dazusetzte. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus.
Auch in anderer Hinsicht. Am Bauzaun der wenige Kilometer entfernten WAA Wackersdorf konnte ich als Jugendliche bestaunen, wie die mächtigen Inszenierungen Einzelner die Relevanz des sich physisch Vollziehenden beinahe versenkten. Auch mittels sprachlicher Routinen beinahe versenkten. Im lässigen Durchwinken sprachlich erschließbarer Sachlagen. In der Verwechslung des Talents der Sprache, ihren Sprecherïnnen die Dinge vom Leib zu halten, mit der Wirklichkeit. In der Verschmelzung ihrer Sichtbarkeitsmetapher aus Sehen-Benennen-Bescheidwissen zu einem all-in-one Vergewisserungsdrops.
Umso wichtiger wurden mir alle Ansätze, die diese selbe Sprache anders sprachen. So, dass sie die Erschließungsbedürftigkeit der Welt im eigenen Kopf akut hält. So, dass den Stimmen, wie es beim lettischen Dichter Semjon Hanin heißt, den ich kürzlich aus dem Russischen übersetzt habe, „die oberste Schicht akkurat abgenommen“ ist. Das ist für mich jene Schicht, die meint, mit einem Blick feststellen zu können du bist x und daran hängt ein automatisierter Rattenschwanz angeblicher Zwangsläufigkeiten. Wovon ich mich als Kind ja einmal unter einer Tarnkappe hatte erholen wollen – von dieser geschlechtlich überstrukturierten Schicht mit du bist xx und daraus folgt y, y, y – und in diesem Wegschlüpfen war ich in die Literatur, die Poesie geraten. In die Tarnkappenkammer der Sprache, wo nicht ein Blick dem anderen zuweist Du bist und So ist, sondern ein Text seine Leserin fragt Wie verbinde ich dich mit was? Im Idealfall, meine ich, so nachdrücklich fragt, dass der Autorenname und die Person darunter in die Unsichtbarkeit wegsinken.
Mein Glück ist nun, dass ich in meinen eigenen Idealfall nicht hineingeraten bin. So dass ich jetzt hier stehen und Ihnen danken darf, dass Sie mich mit meinem Gewerkel in der Tarnkappenkammer gesehen und zu sich in Ihre Akademie gewählt haben. Denn darüber freue ich mich sehr.