Claudio Magris

Writer, Germanist and Translator
Born 10/4/1939
Member since 1978

Musil schreibt, ein Österreicher sei ein Österreich-Ungar minus den Ungarn, das Resultat einer Subtraktion. Gleichermaßen schwierig ist es vielleicht für einen Triestiner, wie ich einer bin, seine Identität positiv zu fassen; das zu sagen, was er nicht zu sein glaubt, fällt ihm leichter als seine geistigen Personalien affirmativ anzugeben. Triest war, ebenso wie das untergehende Kaiserreich, zu dem es bis 1918 gehörte, ein heterogener Komplex, eine Vielfalt von Widersprüchen, die sich in einer Einheit nicht lösen noch schlichten ließen; es war somit – in verkleinertem Maßstab – ein Modell der fundamentberaubten modernen Welt, ein Spiegelbild jener zeitgenössischen Kultur, die, wie Musil nur zu gut wußte, in der Luft steht und kein zusammenhaltendes Zentrum kennt, genau wie die Parallelaktion. Einige Bücher von mir, wie Il mito absburgico (Der Habsburgische Mythos) oder Lontano da dove (Weit von wo), sind nicht zuletzt dem indirekten Echo dieses Triest entsprungen, das den Untergang des alten Europa wie einen Abschied von der Totalität und von der Einheit des Lebens, d. h. von der Epik, erlebt hat. In der Analyse jener Werke und Mythen versuchte ich, mit skeptischer und ironischer Sehnsucht, dieses Ende der Epik und des Sinnes schlechthin zu reflektieren.

Mein erstes Buch habe ich aber in Turin geschrieben, wo ich studiert habe und wo ich viele Jahre hindurch unterrichtet und gelesen, wo ich wachsen und arbeiten gelernt habe. Sollte ich sagen, wer oder was ich bin, so müßte ich sagen, daß ich vor allem dieses Pendeln und diese Polarität zwischen Triest und Turin bin und daß mein Leben nicht zuletzt der Versuch ist, zwischen diesen beiden Polen nicht zu wählen – wie es sich für einen Habsburger gehört, der, wie der »Schwierige« Hans Karl bei Hofmannsthal oder wie Zeno Cosini bei Svevo, nicht wählt, um nicht zu verzichten, ist es doch diese stets offene Schwingung, die sein Dasein ausmacht. In Triest, in seinem Meer und seinem Karst, die Wurzeln, in Turin deren Möglichkeit, Früchte zu zeitigen; in Turin die bedrängende Hetze der Arbeit und der sozialen Spannung, die ein Abgleiten in die Lethargie nicht zulassen, deren atemloser Ansturm aber ersticken kann, in Triest die Ruhepause des Interieur, die vor dem Zugriff der Zeit zu retten vermag, die aber verführerisch sein kann wie die Lotosblume; in beiden die Bande der Freundschaft und der Zuneigung, verflochten zu einem einzigen Strang, als wären die beiden Städte zwei verschiedene Räume einundderselben Heimstätte und als läge allein in ihrer Komplementarität die Möglichkeit, in der Welt, wenngleich nicht dichterisch, wie Hölderlin sagte, so doch zumindest nicht undichterisch zu wohnen.

Über diese Freundschaften, über diese Verbindungen und Zuneigungen müßte ich sprechen. Unsere Person ist der Punkt, an dem andere Individualitäten zusammentreffen, sie ist das Geflecht, in dem die Gesichter, die Worte und das Lächeln jener einander kreuzen, denen wir den Sinn verdanken, der unser Dasein erhellt. Ich habe symbolisch von Triest und von Turin gesprochen, ich müßte noch andere Städtenamen nennen – insbesondere Wien, Freiburg und München – die vor allem für Personen stehen, deren Begegnung uns formt und uns werden läßt. Was liegt an mir, sagte Nietzsche; ein jeder weiß, daß er – in seiner privaten Zufälligkeit – anonym und unbedeutend ist. Wenn wir uns aber beim Blick in den Spiegel – ohne Narzißmus – ein wenig gern haben können, so deshalb, weil wir auf unserem Antlitz den Widerschein anderer Gesichter, Stätten und Landstriche erkennen, die wir lieben. Deutschland und die anderen deutschsprachigen Länder sind ein nur allzu großer Teil dieser Wirklichkeit, aus der ich bestehe und die über mich hinausgeht.

So war für mich die deutsche Literatur auch und zuallererst der Filter, durch den die Welt, das Leben und deren Probleme zu sehen waren, Probleme, welche die Dichtung sicherlich nicht zu lösen vermag, die sie aber unermüdlich immer wieder aufwirft und aufs Neue beleuchtet. Die Befassung mit Hoffmann ließ mich den Verlauf jener heute noch offenen Spaltung der Persönlichkeit – und der Sprache – nachvollziehen, die durch die Intuition und durch die Erforschung anderer Möglichkeiten psychischer Organisation, durch die Entdeckung der multiplen, zergliederten und fließenden Struktur des Subjekts zu gesunden hofft; durch die Auflösung des großen Stils, wie Nietzsche ihn nannte. Dieser Weg führte und führt mich stets hin zur österreichischen, aber nicht nur zur österreichischen Literatur allein: z. B. auch zu Hamsun, Svevo oder Borges.

Die Erforschung dieser Auflösung des großen Stils, welche die ganze moderne Literatur kennzeichnet, ist gleich der Abrechnung mit jenem »Delirium vieler«, das nach Musil unser Sein begründet, mit jenem – uns heute aufreibenden – Konflikt zwischen einem erstarrten Universellen und einer wilden Unmittelbarkeit, zwischen einer allgemeinen stets unangemesseneren Vernunft und den immer stärker auseinanderstrebenden und hilflosen Singularitäten in ihrer bezuglosen Wertfreiheit. In diesem Furor lebt die zeitgenössische Kultur ihre derzeitige Kondition.

Wer schreibt, sucht stets zu erfahren, ob etwas und was »hinter den Worten« steht, wenn Sie mir gestatten, auf den Titel einer kleinen Aufsatzsammlung von mir zu verweisen (Dietro le parole); er sucht, das chaotische Fließen des Vielfältigen zu klassifizieren und zu ordnen, die Identität der Dinge auszumachen. Doch unser Geist wird der zunehmenden Schwierigkeit gewahr, den Fluß der Lebensmoleküle zu klassifizieren und ihm eine Ordnung aufzuerlegen. Es geht uns so, wie es – in einer Erzählung Svevos – dem Hunde geht, wenn er versucht, zwischen den Gerüchen Ordnung zu schaffen, um die wimmelnde Vielfalt des Lebens zu identifizieren: »Es gibt drei Gerüche in dieser Welt [schreibt der Hund]: den Geruch des Herrn, den Geruch der anderen Menschen, den Geruch Titìs [eine Hündin], den Geruch verschiedener Tierrassen (von Hasen, die manchmal, aber selten gehörnt und groß sind, und von Vögeln und Katzen) und schließlich den Geruch der Dinge«. Es scheint zwischen einer Kategorie und ihren Objekten keine feste Beziehung mehr zustande zu kommen, und der Geist selbst ist – in seinem chaotischen Ordnungsversuch – jenes Element, das jede Identität fortwährend in immer kleinere Unter-Einheiten auflöst. Doch wer schreibt, hat uns Svevo gelehrt, gebietet dieser Unordnung Einhalt, indem er das »grauenvolle wirkliche Leben« mit seinen scharfen und schmerzhaften Kanten zu einem glatten Blatt Papier werden läßt, wo das Unwürdige in die Ordnung der Vergangenheit eingeht, ebenso wie das Gedächtnis den Abstand zwischen Blitz und Donner aufhebt und jene Einheit des Erlebnisses schafft, die das Leben nicht kennt, die es allein in der Darstellung des Lebens, in der Niederschrift und in der Lektüre des Lebens gibt.

Jedes – gelesene und/oder geschriebene – Buch füllt den Leerraum jener Ungewissen Identität aus, die wir – wie der Österreicher Musils – nicht zu bestimmen wissen: von den Büchern Karl Mays oder Emilio Salgaris der Jugend bis hin zu den großen Werken der Weltliteratur, von den Büchern, die wir als Kinder zu schreiben beginnen (in meinem Falle – eine pedantische Auflistung der Hunderassen) bis hin zu denen, die uns einen Lehrstuhl eingebracht haben. Wer schreibt, ist wie der Mensch, der – in einer Erzählung von Borges – die Welt (Länder, Schiffe, Pferde) auf eine Leinwand projiziert und am Ende entdeckt, das Bild seines eigenen Antlitzes gezeichnet zu haben. Der Weltkarten gibt es sicherlich solche und solche, und somit gibt es auch der Gesichter viele: zuweilen ist ein Gesicht so unbedeutend und blaß, daß es mit Staunen erfüllen muß, wenn es eine Akademie, wie es in meinem Falle geschehen ist, als korrespondierendes Mitglied in seine Mitte hat aufnehmen wollen.

Möge Ihnen aber eben dieses Staunen als Zeichen tiefsten Dankes stehen.