Ralf Rothmann

Writer
Born 10/5/1953
Member since 2025

Verehrter Herr Präsident,
liebe Mitglieder der Akademie,
sehr geehrte Damen und Herren,

glaube ich den Erzählungen der Eltern, waren meine ersten Jahre auf einem Gutshof an der norddeutschen Schlei ein Glück. Das junge Melker-Ehepaar nahm das 1953 geborene Kind zu jeder Arbeit mit sich, es schlief im Korb unter dem Heuwagen und lernte gehen, indem es sich an den Leibern der Kühe festhielt. Alle hatten Namen, noch Jahrzehnte später sprachen die Eltern von ihnen wie von entfernten Verwandten, aber natürlich habe ich keines der vielen Tiere mehr in Erinnerung; wohl aber ihre Traurigkeit.

Dann das Ruhrgebiet, wo es besser bezahlte Arbeit für den Vater gab, und der Schock: Statt der blühenden Wiesen und Felder vermüllte Kiesgruben hinter der Siedlung, statt der klarblauen Luft ein stinkender Wind, der Ruß über die weiße Wäsche blies. Das nächste Entsetzen folgte in der Schule, das Schreien, Rempeln und Prügeln auf dem Pausenhof. Nach fast sechs Jahren allein mit den Eltern und den vielsagend stummen Tieren, kam es mir vor, als ob hier jeder den anderen seit langem kannte und alle etwas Geheimes verband, ein ausgrenzender Code – dessen Entschlüsselung ich mir von den Büchern erhoffte.

„Stör den Jungen nicht, der liest!“ war ein Satz, mit dem die Hoffnung einherging, ich möge einmal qua Bildung aus dem zermürbenden Kohlenpott herausfinden. Aber allzu oft verbarg ich mich nur hinter den Buchdeckeln, um den eigenen Träumen nachzuhängen, und ein paar Jahre später, als Lehrling auf dem Bau, schrieb ich erste Verse in meine Berichtshefte, zwischen die Zeilen in Deutscher Normschrift.

Dann Berlin, der Liebe wegen. Ab 1976 die eine oder andere Begegnung mit Schriftstellern, und die mit Christoph Meckel war ein weiteres Glück. Als Freund und Mentor lebte er mir vor, dass es für einen Dichter nichts Wesentlicheres gibt als die innere Freiheit, und befeuerte überdies meinen Wunsch, ein Jahr lang ohne viel Geld durch die USA und Lateinamerika zu trampen. Und aus Peru kehrte ich mit einer neuen Liebe zurück, der zur spanischsprachigen Lyrik. Neben einer Senfkorn-Bibel steckte fortan ein Band mit César Vallejos Gedichten in meinem Gepäck.

Schließlich schrieb ich Romane, wobei sich die Ausgestaltung meiner Zeit an der Ruhr von selbst ergab: Den Exzessen im subkulturellen Westberlin der späten 70er, frühen 80er Jahre begegnete ich eher mit vorauseilender Vergesslichkeit. Der Kohlenpott aber, aus der Distanz betrachtet, wurde mir zu einer unausdenkbaren Metapher: Um eine genehme Höhe des Lebensstandards zu erreichen, gräbt man sich den Boden unter den Füßen weg – geht es noch absurder? Oder universeller? In seiner von Rissen durchzogenen Gleichnishaftigkeit war das Ruhrgebiet plötzlich überall, sogar in meinem Kreuzberger Hinterhof, aus dem ich nach langen Nachtschichten vier Bücher zu Tage förderte. Erst dann, als auch die Erlebnisse längs der Mauer zu Erfahrungen kondensiert waren, konnte ich über Berlin schreiben.

Es folgte ein Jahrzehnt der Arbeit an Romanen über meine Eltern und ihr Leben vor meiner Geburt, während des letzten Weltkrieges. Anlässe waren sowohl ihr beharrliches Verschweigen dieser Zeit, ein Vakuum, das sich zunehmend dringlich mit Sprache füllen wollte, als auch die Frage: Warum eigentlich reißt es mich seit der Pubertät immer wieder aus dem Schlaf, weil ich träume, von Soldaten exekutiert zu werden? „Transgenerationale Traumavererbung“ – ein heute geläufiger Ausdruck, den ich damals allerdings noch nicht kannte. Schreibend kam ich hinter seine Wahrheit, was mir den Umgang mit mir selbst ein wenig erleichterte.

Seit gut fünfzig Jahren lebe und arbeite ich nun in Berlin, und im ausgekohlten Ruhrgebiet fließt inzwischen jeder Fluss rückwärts, wie die Erinnerung. Ohne die unzähligen Pumpen und ihre dort so genannten Ewigkeitsaufgaben wäre die abgesackte Region längst unbewohnbar, läge vergessen auf dem Grund einer „Westfälischen Seenplatte“. Aber eine Ewigkeit ist bekanntlich auch im Augenblick die ganze, und Gedächtnis ist unser Beruf, wo wüsste man das besser als in einer Akademie, die ebenfalls dazu beiträgt, das Land und seine Sprache bewohnbarer zu machen. Hier mitwirken zu dürfen ist eine Freude und eine Ehre, für die ich Ihnen danke!