Cesare Cases

Germanist
Born 24/3/1920
Deceased 27/7/2005
Member since 1989

Was mich zur deutschen Sprache und Literatur hinzog, ist nicht leicht zu bestimmen. Vielleicht war es ein Buch, und zwar nicht seines Inhalts wegen, sondern in seiner rein materiellen Beschaffenheit. Die jüdische Abstammung und die vermeintliche Wahlverwandtschaft zwischen Juden und Deutschen, die vielen, zuletzt Gershom Scholem, unerklärlich dünkte, spielten in meinem Falle gar keine Rolle. Obwohl meine seit dem 16. Jahrhundert in Mantua ansässige Familie einen spanisch klingenden Namen trug, war sie höchstwahrscheinlich nicht sephardischen, sondern askenazischen Ursprungs. Aber Deutsch oder Jiddisch wurde, wenn jemals, seit Jahrhunderten nicht gesprochen und übrigens war, als ich geboren wurde, die Familie völlig assimiliert. »Wir italienischen Juden – sagte mir einmal Primo Levi – hätten nie wahrgenommen, daß wir Juden waren, wenn man es uns nicht mit überzeugenden Mitteln nahegebracht hätte«.

Wenn die Abstammung wegfällt, könnte man an die geographische Lage denken. Mantua gehörte zur österreichisch regierten Lombardei und als die Stadt 1861 ans neu gegründete Königreich Italien fiel, zog mein Urgroßvater zeitweise nach dem noch k. k. Verona, vermutlich weil er als Seidenhändler in seinen Geschäftsbeziehungen auf Österreich angewiesen war. Von dieser Zeit wußten mein Großvater und meine Großtante schon in den heute modisch gewordenen elegischen Tönen zu berichten und sie lehrten mich auch die italienische Fassung des »Gott erhalte« zu singen. Als aber etwa 1875 mein Großvater als frischgebackener Jurist die Heimat verließ und in Mailand Fuß faßte, brachte er nichts von dieser k. k. Herrlichkeit mit – er kannte kein einziges deutsches Wort –, außer einem Buch, das er als Geschenk für das gut bestandene Abitur erhalten hatte. Dies Buch erregte immer wieder meine Bewunderung, wenn ich meine Großeltern besuchte. Es war nicht nur in einer mir unverständlichen Sprache, sondern auch in einer unverständlichen Schrift gedruckt, nämlich in Fraktur. Es waren Lessings Sämmtliche Poetische und vorzügliche Prosawerke in einem Band, »solid und elegant gebunden in Leinwand mit Lessings Büste in Hochdruck«, verlegt von Karl Prochaska in Teschen und Leipzig, wahrlich ein Meisterstück bürgerlicher Buchdruckerkunst. Herr Prochaska hatte fast den ganzen Lessing zweispaltig für einen Reichstaler oder für zwei Florine österreichischer Währung zur Verfügung gestellt.

Für mich war es ein Buch mit sieben Siegeln, aber vor ihm habe ich lange sinniert in meiner einsamen Kindheit, denn im Inneren des Einbands blickten mich auch Goethes und Schillers Büsten an, diesmal nur gestochen, anzeigend, daß Herr Prochaska sie auch vorrätig hatte. Alle drei Klassiker hatten nichts wilhelminisch Gebieterisches und Einschüchterndes an sich, sondern ihre Züge waren österreichisch weich und etwas dekadent, sie ähnelten mehr Grillparzer als ihrem landläufigen Konterfei. Das ist vielleicht ein Milderungsgrund angesichts der Tatsache, daß die drei Klassiker sich in Hochdruck in mein Herz einprägten, lange bevor ich sie auch nur in Übersetzungen zu lesen anfing; vor allem freilich Goethe, weil sein Band bei Herrn Prochaska doppelt so dick und doppelt so teuer war wie die anderen. Deutschland war also schon für das Kind ein Land, wo Klassiker in gediegener wohlfeiler Ausstattung blühen. Die in Italien längst gepflegte und durch Croce obligatorisch gewordene Bewunderung für deutsche Denker und Dichter besorgte das Übrige. Als ich in der Schweizer Emigration so weit war, daß ich diese Klassiker im Urtext lesen konnte, hatten Nationalsozialismus und Krieg eine hohe Mauer zwischen deutscher Sprache und deutschem Wesen errichtet. Um so willkommener war mir die Entdeckung von Karl Kraus, der am deutschen Wort die Verwerflichkeit der Zeit und des Landes der Richter und Henker abschätzen konnte. Dies Bewußtsein der ethischen Rolle der Sprache wurde für mich auch als Kritiker italienischer Literatur und Kultur wichtig. Denn es hat wenig Sinn, mit fremden Sprachen und Literaturen zu kokettieren, wenn sie uns nicht helfen, an unsere eigene neue Maßstäbe anzulegen. Deswegen fühle ich mich der deutschen Sprache und Dichtung nicht nur als Germanist zutiefst verpflichtet und ich danke Ihnen herzlichst dafür, daß Sie mich als korrespondierendes Mitglied in die Darmstädter Akademie gewählt haben.