Erich Hackl

Writer and Translator
Born 26/5/1954
Member since 1997

Ich bin nie in den Krieg gezogen, auch nicht in einen gerechten. Ich bin nie geflohen, aufgegriffen und gefoltert worden. Ich habe nie Tuberkuloseanfälle durch den Verzehr von Löwenzahn überstanden. Ich habe, in einem Wirtshaus, nie auf die Sperrstunde gewartet, um dann mit der Kellnerin in ein Haferfeld zu gehen. Ich war nie elfeinhalb Jahre lang allein in ein Loch gesperrt. Ich habe nie unter einem Nazivater gelitten; ich habe mich nie tot gestellt. Ich habe nie meinem Volksschullehrer eine goldene Uhr gestohlen. Meine Eltern haben mich nie zu lieben vergessen. Ich habe nie, hinter dem Fenster des Sterbezimmers, das Meer gesehen. Ich habe nie, wegen meines schlechten musikalischen Gehörs und aus einem Mißverständnis heraus, als einziger Tango zu tanzen begonnen. Ich bin nie Industrieminister gewesen, nicht einmal Präsident der kubanischen Nationalbank. Ich habe nie meiner Hinrichtung beigewohnt, ich bin nie, nach meiner Hinrichtung, von den Toten auferstanden, habe nie nach dem Hut eines zweiten Exekutierten gegriffen, habe den Hut nie aufgesetzt und mich anschließend nie auf den Weg gemacht, um den Aufstand zu schüren. Ich bin nie gestorben. Ich bin nie gefallen. Ich bin nie achtzig oder fünfundsiebzig geworden. Ich habe die Schlacht gegen die Windmühlen nie überlebt. Aber ich habe, im Lauf dieses Jahres, über Menschen geschrieben, denen dies oder jenes zugestoßen ist. Ich versuche nachzudenken, was mich mit ihnen verbindet und was sie von der Welt trennt. Ich erinnere mich an drei Sätze.

Den ersten Satz – den Satz der Trennung – habe ich im Kino gehört, in einem Film der Regisseure Stanley Tucci und Campell Scott. Big Night erzählt die Geschichte zweier Brüder, die irgendwo an der US-amerikanischen Ostküste ein italienisches Spezialitäten­restaurant betreiben. Sie scheitern, weil sich der ältere Bruder – Primo, der Koch – wider alle wirtschaftliche Vernunft der genauen Arbeit verpflichtet fühlt, die Zeit kostet und Hingabe erfordert; am Ende werden sie von einem Konkurrenten in den Ruin getrieben. Zur Rede gestellt, verteidigt er sich mit dem Hinweis, daß er eben Geschäftsmann sei: »Ich bin nur das, was ich gerade sein soll«.

Den zweiten Satz hat, der Überlieferung des französischen Intellektuellen Régis Debray zufolge, Che Guevara gesagt. Im April 1967, ein halbes Jahr vor Ches Ermordung, stritten sich die beiden im bolivianischen Urwald um einen Zuckerwürfel. Die Frage war, wie der Würfel unter zehn hungernden Guerrilleros aufzuteilen wäre. Debray wollte ihn zwei Leuten geben; damit, so meinte er, wäre wenigstens diesen geholfen: »Lieber zwei Gefährten, deren Überlebenschancen steigen, wenn sie das wenige essen, als zehn Gefährten, die gar nichts haben, weil sie zehn Mal nichts essen.« Che Guevara verwahrte sich gegen eine solche Entscheidung. Die Revolution habe ihre Prinzipien, meinte er, also müsse jeder seinen Teil bekommen, auch wenn es für keinen reicht. Immerhin gebe es dann zwei Bürokraten weniger. Es sei also besser, daß mit Sicherheit zehn Revolutionäre unter absolut gleichen Bedingungen sterben, fragte Debray. Und Che gab zur Antwort: »Nur wenn die Moral unbeschadet ist, ist auch die Revolution unbeschadet. Wenn nicht, welchen Sinn hat sie dann?«

Der dritte Satz, an den ich mich erinnere, stammt von der Büroangestellten Ruth Glasl. Ruth hatte meinem Freund, dem kubanischen Regimekritiker Jorge Pomar, den sie nicht kannte, Monat für Monat einen Brief aus Bonn in die Strafanstalt von Ariza geschickt und ihn so vor den Fallen der Einsamkeit bewahrt. Sie war überdies bestrebt, möglichst viele Menschen mit seiner Geschichte bekannt zu machen, und sie wies mich ständig auf Gelegenheiten hin, wie Pomars Los zu erleichtern wäre. Später einmal zeigte ich mich verwundert über ihren Einsatz für einen Menschen, dem sie nie begegnet war. Sie erwiderte, ihre Triebfeder sei im Grunde die eigene Angst gewesen – Angst vor der Schmach, unbemerkt zu bleiben in einer denkbaren Zukunft, in der das Eintreten für Verfolgte einen selbst zum Verfolgten stempelt. »Immer ein Stück zuviel«, meinte sie, »immer ein Stück zu weit gehen, um von den Herrschenden nicht übersehen zu werden.«

Die Menschen, über die ich schreibe, sind wie Primo, wie Che, wie Ruth. Ich glaube nicht, daß sie besonders glücklich sind, und der Hinweis darauf, daß sie in Einklang mit ihren Ideen und Werten handeln und leiden, macht sie eher verdächtig, und mich dazu, weil ich diese Werte teile. Ihnen blüht vieles, nur nicht der Erfolg. Aber Hauptsache, sie sind nie das, was sie gerade sein sollen.