A. Leslie Willson

Germanist
Born 14/6/1923
Deceased 28/12/2007
Member since 1993

Plötzlich ist man da und weiß gar nicht, daß man da ist. Was man weiß, ist nichts, und man weiß nicht einmal, daß man nichts weiß. Das ist unser aller Anfang.

In meinem Falle war der Anfang in Texhoma, Oklahoma, ein kleiner Grenzort zwischen Texas und Oklahoma, in den sogenannten Pfannenstielen von beiden Staaten. Zufälligerweise kam ich auf der Oklahoma-Seite der Grenze zur Welt: am 14.Juni 1923, nachts, im Sommer, unter dem Zwillingszeichen.

Das Zwillingszeichen scheint mein ganzes Leben geprägt zu haben. Ein kleines Ebenbild meines Vaters war ich in meiner Kindheit, ein Jüngerer. Mein Vater hatte als Vornamen den Namen des biblischen Propheten Amos. Woher sein zweiter Vorname gekommen ist, weiß ich nicht – nur, daß man mich immer Leslie genannt hat, was in späteren Jahren zur Plage wurde, weil so viele Mädchen diesen Namen bekamen. Eigentlich bedeutet der männliche Familienname Leslie im Altschottischen soviel wie ›der Wächter der grauen Burg‹. Als ich 1979 in Deutschland war – damals war ich Präsident der neugegründeten American Literary Translators Association – lautete im Börsenblatt des deutschen Buchhandels eine Schlagzeile: ›Präsidentin Willson jetzt in Deutschland‹. Einige Freunde in Düsseldorf haben sich darüber fast totgelacht, und ich, zufälligerweise in Frankfurt am Main, marschierte gleich zum Büro des Börsenblatts und habe mich vorgestellt: mit Bart.

Ich begann früh zu lesen und habe bis zum heutigen Tage nicht aufgehört. In der Schule hatte ich neben Stachelschwein – meine Haare wollten sich nicht auf den Kopf flach legen – auch den Spitznamen Bücherwurm, weil ich immer ein Buch zur oder in der Hand hatte. Mit sieben Jahren, als ich eines abends eine Stunde lang gedruckte Blätter einer Wochenzeitung in Texhoma aufgestapelt habe, als sie die Presse verließen, bekam ich Druckerschwärze auf die Finger und in meine Nase den Geruch von heißem Blei von der Zeilengießmaschine. Ich verliebte mich auf der Stelle in gedruckte Worte auf Papier. Damals wußte ich es nicht, aber ich mußte eines Tages Herausgeber und Verleger werden.

Mit vierzehn wachte ich im Sommer früh auf, stieg auf das Dach des Hauses in Amarillo auf der Pfannenstiel-Hochebene von Texas und beobachtete den Sonnenaufgang, den ich später sorgfältig und ausschweifend in ein paar Absätzen beschrieb. Jeden Morgen war er anders. Der texanische Himmel ist weit und das Licht blendend. Ich wollte Schriftsteller werden, schrieb Gedichte, kleine Essays, und versuchte ein paar kurze Erzählungen und einen Roman mit dem Titel Der matte Stern. Ich Träumer wußte aber, daß man wenig mit Poesie verdient. Deshalb habe ich mich entschieden, Journalist zu werden. Auf der Universität habe ich auch Journalistik studiert. Dann kam der Krieg, und ich mußte meine Studien unterbrechen.

Wie viele Amerikaner so hatte auch ich Spanisch studiert, aber für mich sprangen keine Funken davon über. Anders wurde es mit Deutsch, das ich auf der Universität Nebraska in der Armee lernte. Vom ersten Tag an war mir die deutsche Sprache irgendwie bekannt; die größte Entdeckung meines Lebens begann. Auch dieses Studium wurde unterbrochen, aber ich kam nicht, wie viele meiner Freunde, zur Infanterie, sondern, weil ich sehr schnell tippen konnte, in ein Hauptquartier und schließlich in den Geheimdienst der Armee. Dort habe ich technische Dokumente übersetzt – eine grausame und langweilige Arbeit. Um mich davon zu erholen, las ich einen kleinen Band, den ich in einem Antiquariat in Philadelphia gefunden hatte: Rilkes Briefe an einen jungen Dichter: Was für ein Wunder! Das erste von vielen.

Nach dem Krieg, im Jahre 1947 habe ich mein Journalistik-Studium abgeschlossen, studierte dann weiter die deutsche Literatur, und 1954 bekam ich von der Yale Universität den Doktor-Grad. Ich habe mich in die deutsche Literatur verliebt, zuerst in die Romantiker, in Novalis besonders. Meine Bekanntschaft mit Rilke wurde tiefer und inniger. Ich entdeckte die großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und die der Jahrhundertwende. Am wichtigsten aber wurden mir die Autoren der Gegenwart und deren Werke. Nachdem ich zehn Monate, vom September 1962 bis Juni 1963, in Deutschland verbracht hatte, um Friedrich Schlegel und seinen Romantikerkreis zu untersuchen, kehrte ich mit meiner Familie nach Amerika zurück: mit Gegenwartsautoren in der Tasche. Die meisten amerikanischen Leser kannten sie gar nicht; die meisten meiner Germanisten-Kollegen schenkten ihnen wenig Aufmerksamkeit. Mir fiel aber allmählich auf, daß die Übersetzungen von zeitgenössischen deutschen Autoren manchmal schlecht waren und überdies kaum zu finden. Die Autoren taten mir leid. Es war eine unerträgliche Situation.

1966 an der Universität Texas als Germanistik-Professor, habe ich mich entschieden, eine Literatur-Zeitschrift herauszugeben, die Lage der deutschen Autoren in Amerika wenn möglich zu verbessern. So entstand Dimension, die in diesem Jahr mit dem 20. Jahrgang eingestellt wird. Ich hatte auch in Texas das Glück, ein Programm mit Gast-Dozenten (lies: mit deutschen Schriftstellern) im deutschen Seminar zu begründen. Auf ein Semester kamen nach Austin der Reihe nach Jurek Becker, Hans Bender, Hans Christoph Buch, Ingeborg Drewitz, Gert Hofmann, Ernst Jandl, Uwe Kolbe, Barbara König, Günter Kunert, Christoph Meckel, Peter Rühmkorf, Mathias Schreiber, Siegfried Unseld und Martin Walser, unter anderen. Ich wurde Hirt und Missionar für die deutsche Gegenwarts-Literatur in Amerika.

Durch Dimension, dank der Großherzigkeit deutscher Autoren und Verleger, ist meine Welt in ihrer Weite unaussprechlich gewachsen. Drei Monate lang reiste ich im Jahre 1979 durch Deutschland (damals Ost und West), durch Österreich und die Schweiz und besuchte fast 80 Autoren, die mich alle freundlich und gastlich aufgenommen haben (unvergeßlich Gespräche in Berzona, wo ich bei Max Frisch übernachtete). Im Jahre 1976 wurde ich mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 1981 wurde mir die Goethe-Medaille verliehen. Mein Leben als Übersetzer, Herausgeber, Verleger und Professor ist durch die Freundschaften vieler Autoren und ihrer Familien unbeschreiblich reicher und glücklicher geworden. Von so vielen Freunden und Kollegen in der Akademie für Sprache und Dichtung freundschaftlich aufgenommen und begrüßt zu werden, ist mir eine sehr große Ehre. Dieser Texaner-Zwilling bedankt sich bescheiden von Herzen.