Günter de Bruyn

Writer
Born 1/11/1926
Deceased 4/10/2020
Member since 1990

Johann-Heinrich-Merck-Preis

Der moderne Mensch trägt bekanntlich nicht nur zwei, sondern mehrere Seelen, ach, in seiner Brust, kann davon aber nur eine präsentieren, wenn er sich in fünf Minuten vorstellen soll. Da es hier um die Ehre geht, in die Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen zu werden, läge es nahe, jenen Teil des Selbst vorzuführen, in dem die Literaturliebe sitzt. Aus gegebenem Anlaß aber möchte ich einen anderen, weniger ausgebildeten Seelensektor beleuchten, den ich den staatsbürgerlichen nennen will.

Der gegebene Anlaß ist das Kuriosum, daß ich als Bürger des einen Staates in die Akademie berufen wurde, sie als der eines anderen aber betreten darf. Ein seltener Fall, dieser Staatswechsel, aber doch nicht einmalig in meinem Leben; denn wer, wie ich, 1926 zur Welt kam, konnte dergleichen schon mindestens zweimal erleben, wenn auch nicht so bewußt und friedlich und von erleichtertem Aufatmen begleitet wie jetzt. Neu ist auch der beschämende Gedanke, daß einer, der drei so verschiedene Staaten überlebte, ohne auch nur einmal im Gefängnis gesessen zu haben, von Charakterfehlern nicht frei sein könne – doch läßt sich glücklicherweise diesem Gedanken erfolgreich begegnen, indem man, dem eignen Leben nachdenkend, doch eine Möglichkeit findet, unbeschädigt an Leib und Seele aus diesen Wechseln hervorzugehen. Man konnte sich nämlich um diese Staaten nur wenig scheren, konnte sie, war man seßhaft wie ich, als zeitweilige Okkupanten seiner Heimat betrachten, – was in Berlin, wo bekanntlich nicht die Berliner, sondern Österreicher, Sachsen oder Saarländer regierten, besonders leicht möglich war. Man kann also den Staaten die Vorherrschaft über Verstand und Gemüt verweigern, mit Lessing der Ketten spotten, mit Schiller die Freiheit im Gesang (oder auch in der Lektüre) suchen, so daß einem die Kindheitsjahre der Weimarer Republik als Zeitalter der Grimmschen Märchen, das Hitlerreich, mit dessen Beginn ich das Lesen lernte, als Karl-May-Periode und das dritte meiner erlebten Reiche als das der übrigen großen Literatur erscheinen könnten – würde bei dieser Betrachtungsweise nicht der entscheidende Einfluß eines Familien-Katholizismus vergessen, der, in der Diaspora noch viel stärker als in katholischen Gegenden wirkend, aller Staats-Distanzierung den nötigen Rückhalt gab. Dieses Anderssein als die anderen war eine Prägung, die auch in Zeiten des betont atheistischen Staates noch wirkte; doch kam dann noch die Erfahrung des geistigen Erwachens der Nachkriegsjahre hinzu. Das war die Zeit, in der Deutschland ohne Staat auskommen mußte; und da es eine glückliche Zeit war, verband sich für immer Glück mit Spuren von Anarchismus, der sich dann jenseits des Jugendalters zu der Erkenntnis klärte, daß der beste Staat, wenn er schon sein muß, der ist, der das Individuum nur wenig tangiert.

Sozusagen in die Wiege gelegt wurden mir auch schon die Aversionen gegen den Zentralstaatsgedanken, da unsere Familie ausgesprochen föderalistisch angelegt war. Mein Vater nämlich war von Geburt, von Staatsangehörigkeit, seinen kulinarischen Vorlieben nach und aus Überzeugung Bayer, ein Preußenverächter also, der aus seinen fadenscheinigen Vorurteilen, für die er aber tausend Begründungen wußte, lediglich meine Mutter ausklammerte, deretwegen er in Berlin hängengeblieben war. Der bayerische Heimatschein war das Heiligtum der Familie; jedes Kind, das hinzukam, wurde von Amts wegen nachgetragen, und wenn es älter war, bekam es immer wieder zu hören, daß es in Notzeiten dort Unterschlupf finden könnte, – ein Privileg, von dem ich aber guten Gewissens nie hätte Gebrauch machen können, da ich mich in unserer in Preußen- und Bayernpartei gespaltenen Familie früh schon zur ersteren geschlagen hatte, vor allem deswegen freilich, weil ich lieber Kartoffeln als Mehlspeisen aß.

Das ferne Vaterland Bayern, das vertraute Mutterland Preußen (genauer: sein Kernland, Berlin und die Mark Brandenburg): dabei ist es im Innern immer geblieben, aller formellen Staatsangehörigkeiten zum Trotz. Ein wenig schief und gewaltsam ließe sich auch mein Geschriebenes in diese dualistische Innentopographie zwängen, und auch die Fixsterne meines Leselebens, Theodor Fontane und Jean Paul Friedrich Richter (der allerdings Franke war und erst im letzten Lebensdrittel zum bayerischen Staat gehörte) waren danach. Ihnen und einigen anderen, wie Thomas Mann, Heinrich Böll, habe ich viel zu danken; den Staaten aber bin ich nur insofern verpflichtet, als sie jahrelang meine Freuden an bibliothekarischer Arbeit mit einem Gehalt honorierten, mir durch Mißstände Schreibstoffe lieferten oder mich in Ruhe arbeiten ließen. Und so oder so ähnlich wird es wohl auch fernerhin sein.

Ich habe Romane, Erzählungen, Parodien, Essays und Biographien geschrieben. Über sie will ich hier nichts sagen, um nicht Gefahr zu laufen, dem General von der Marwitz, dem Urvater der preußischen Konservativen und glänzenden Memoirenschreiber ähnlich zu werden, der in seinem Testament von 1837, in dem er jede Einzelheit seines Begräbnisses, wie die Zeitdauer des Glockenläutens, die Auswahl der Lieder und die Anordnung des Trauerzuges, festlegte, dem Prediger in scharfen Worten verbot, ihn am Grabe zu loben, dann aber hinzufügte: es dürfe jedoch gesagt werden, daß der Verstorbene als Offizier und Politiker, als Gutsherr, Christ und Familienvater gleich hervorragend war.