Hans Wollschläger

Writer, Translator and Literary critic
Born 17/3/1935
Deceased 19/5/2007
Member since 1983

Der so dankenswerte Anlaß, in Ihren Kreis gewählt zu sein, bringt die undankbare Aufgabe mit sich, in diesem Kreis des Wir unangemessen laut ›ich‹ sagen zu müssen und von der Beschaffenheit des Ichs zu berichten. Es scheint mir der langen wie kurzen Rede gar nicht wert zu sein, und sinnvoller fände ich’s, auf das zu verweisen, was die Strukturalisten, die sich die Welt auch sonst wohltuend einfach machen, das ›Werk-Ich‹ nennen: es ist bei mir ein Etwas, neben dem meine Person durchaus ein bloßes Schattendasein führt. Es hat sich, mit meiner Hilfe, in einem halben Dutzend Büchern zum Ausdruck gebracht und besitzt für mich selber immer noch viele fremde Züge, die ich mit eher wachsender Neugier betrachte. Und sollte ich meine Lebenstätigkeit in einem Satz beschreiben, so müßte ich sagen, sie sei der Versuch, jenes fremde, ›andere‹ Ich näher kennenzulernen – und diese Neugier zu befriedigen, die mir die schönsten Lebensüberraschungen beschert. Das treibe ich nun bald ein halbes Jahrhundert, und wundersam genug ist mir daran, daß die so hochprivate Tätigkeit ein – wie immer in Grenzen gehaltenes – öffentliches Interesse gefunden hat: ein Interesse, dem das meine an wiederum der Öffentlichkeit bei allem guten Willen nicht entsprechen kann. Ich bin ein Einzelgänger, der sich absurd vieler Freunde erfreut, ein Pessimist, der sich durchaus gutgelaunt in seinen Jahren zurechtfindet, ein Vielbesitzender, der in den seinem Beruf als Regel-Konsequenz zugewiesenen ärmlichen Verhältnissen lebt, ein Schriftsteller, der sich mit dem Schreiben furchtbar schwer tut und dem das Leben kinderleicht von der Hand geht –: wozu sollte ich Ihnen das Leichte, Ärmliche, Zurechtfindende, Erfreuende groß beschreiben?

Das ›Andere‹ steht in meinen Büchern und könnte hier nicht besser gesagt werden als dort. Es ist mein Eigentliches, und was man so ›Entwicklung‹ nennt, das ›Wie man wird, was man ist‹, hat nur dort stattgefunden.

Der Rest ist schnell berichtet. Ich bin im Dritten Reich aufgewachsen, zuerst unter Heilgeschrei, zuletzt unter Bomben und Granaten –: im Jahre 10 nach meiner Geburt war der Krieg bewältigt, im Jahre 20 die Restauration –: die Eindrücke dieser zwanzig Jahre, in denen man ja alles lernt, womit später dazuzulernen ist, haben entschieden meine Weltbeziehungen bestimmt, vorab die Einsicht, daß bei der Mit-Welt und ihren jeweiligen zapplig wechselnden Gefühls- und Wissensständen wenig zu holen ist –: ach, ich hatte schon als Kind keine Informationen nötig, um die krachschlagende Volksgenossenschaft um mich herum als fideles Tollhaus zu erkennen und brauche auch heute, wo ich psychiatrisch und medizinisch Fachmann geworden bin, keine akuten Nachrichten mehr, um die Krankheit zum Tode zuverlässig zu diagnostizieren.

Mein ›anderes‹ Ich bestand in dieser frühen und nach-frühen Zeit aus Musik: Während die Umwelt spielen ging, tastete ich mich ins Klavierspiel hinein, bekam Unterricht, mit 13 auch Orgel, bei Arno Schönstedt, schrieb mir bald meine eigenen Stücke – und das hat sich dann wie von selbst ins Studium fortgesetzt, bei Michael Schneider und Wolfgang Fortner; anschließend kam noch Hermann Scherchen dazu. Ich habe viel komponiert damals, unter anderem zwei abendfüllende Sinfonien, und der Dirigentenberuf schien mir für mein anderes Ich so angemessen, daß ich ihn irgendwann vielleicht noch einmal aufgreifen werde – ebenso wie ich mir das Schreiben von Musik für einen imaginären Lebensabend vorgenommen habe.

Aber damals, im Jahr 23, wurde das alles dann von der inzwischen vorgerückten Literatur beiseite gedrängt, und das bestimmende Ereignis war Arno Schmidt, der mich als Schüler annahm – als den einzigen seines Lebens, glaube ich. Ich habe bei ihm von Grund auf zu lernen begonnen, ja das Lernen überhaupt erst gelernt –: als Lehrling komme ich mir noch heute vorwiegend vor, obwohl ich grad meinen Gesellenbrief gemacht habe. Denn ›die Literatur‹ ist ja eine Wissenschaft, nicht einfacher als die Quantenmathematik; es ist des Lernens kein Ende. Gelernt habe ich eine Reihe von Sprachen; die nötige Brotarbeit des Übersetzens hat im Lauf der Jahre rund 30 Bände erbracht. Aber auch viele andere Materien, Wissenschaften: sie so weit zu eigen zu machen, daß in ihnen zu denken war wie in Sprachen und Musik, war mir immer ein Ziel, innigst zu wünschen: – mit wieviel Neid sehe ich nicht manchmal in die Zeiten zurück, wo noch Polyhistor sein konnte, wer heute Dilettant bleiben muß!

Zuletzt geht das alles, was ich war und zu werden hoffe, in einem einzigen Begriff auf: »Ich bin nur einer von den Epigonen, die in dem alten Haus der Sprache wohnen« – den magischen Vers habe ich so ums Jahr 13 in einem mir vom Zufall vor die Augen gewürfelten Gedichtbuch gelesen, und er wurde zur regelrechten Idée fixe; bis ich Karl Kraus selber für mich entdeckte, mußten freilich noch fast zwanzig Jahre vergehen. Was das heiße, ›Epigonen‹, konnte ich als Kind gar nicht wissen: es kam mir vor wie der Inbegriff des Geheimnisvollen selber, eine hohe philosophische Schule vielleicht, ein Zauberzirkel esoterischer Wissenschaft.

Ich weiß es im Grunde heute noch nicht, und sollte ich den einen Satz vom Anfang auf ein Alias bringen, so wäre es dies: herauszufinden, was es heißt, ›Epigone‹ zu sein – herauszufinden, wessen Nachfahre ich bin – und wer alles in mir weiterdenken und – reden will. Darüber könnte ich nun selber stundenlang reden, als Ich, das seinem Werk-Ich lange zugesehen hat, und es würde viel nüchterner und vernünftiger geschehen, als Sie jetzt vielleicht meinen. Es zu wissen, habe ich in dem Alten Haus die Kammern gemietet, vor denen ›Psychologie‹ steht und ›theoretische Physik‹, überhaupt ›Natur-Wissenschaft‹; aber was ich da über meine Natur zu wissen bekommen habe, ist wiederum so privat, daß es wahrscheinlich privat auch bleiben wird: Inhalt jener Bücher des Werk-Ichs, die am Ende bei allen Autoren ungeschrieben bleiben. So viel und so wenig; mehr möchte ich nicht sagen. Ich bin, nach Herkunft und Fortkommen, immer in Gefahr gewesen, ein Dilettant zu werden; ich habe nach Kräften die Chance genutzt, es zu sein.