Peter Eisenberg

Linguist
Born 18/5/1940
Member since 1998

Sigmund-Freud-Preis

Bei der Aufforderung durch die Akademie fällt mir als erstes ein, daß ich als Kind und Heranwachsender den noch kurzen Lebensweg ziemlich oft erzählen sollte. Wer danach fragte, wollte etwas von den gänzlich unterschiedlichen Stationen der Kriegs und Nachkriegskindheit hören: Die ersten fünf Jahre bis Kriegsende in Strausberg bei Berlin, Adresse »Jenseits des Sees«. Als General Schukow unser Kinderzimmer zu seinem Schlafzimmer machte, verreisten wir für ein langes Jahr zu den Großeltern in Mecklenburg. Vor allem der Einmarsch der Roten Armee mit seinem Drum und Dran füllt die Erinnerung an diese Zeit. Statt der Heimreise folgten viele Jahre im Kinderhaus der Kommunität Imshausen und schließlich, nach Rückkehr des Vaters aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft, die Schulzeit bis zum altsprachlichen Abitur in Kassel. Die Erzählung wiederholte sich, die Reaktion darauf ebenfalls. Ich hatte offenbar etwas Alltägliches zu berichten, vielen Kindern ging es so. Und trotzdem mußte es erzählt werden, mußten wir uns immer wieder anhören, unsere Jugend sei schwer. Ich glaube, viele von uns haben nicht keine, sondern mehrere Heimaten. Anders als heute war die Wehrpflicht zu Anfang der sechziger Jahre so gut wie unvermeidlich. Einige Freunde mußten zur Volksarmee, andere zum Bund. Damit fing es an, daß wir uns gelegentlich an den Kopf faßten. Biographisch kam die Wehrpflicht unvermutet, ja überraschend, sie zwang uns die Geschichte unserer Väter auf, sie wollte und wollte nicht enden. Fast alles sah danach interessant aus, auch das halbe Jahr Arbeit in der Schwerindustrie und ein Studium der Nachrichtentechnik in Berlin. Ich verband es mit einem Musikstudium. Das Dolmetschen zwischen Technikern und Musikern war bis dahin eine Sache der Erfahrung gewesen und wurde nun professionalisiert. Wir schrieben das Jahr 1969. Niemand fragte, wie lange und wie viele Fächer einer studierte. Daß ich mich der Sprachwissenschaft zuwandte, hatte eine Menge, darunter auch ziemlich zeitbedingte Gründe. Die Sprache des Arbeiters verstand niemand, aber es war die Sprache, die letztlich für seine Depraviertheit verantwortlich sein sollte. Und gleichzeitig: die sprechende Maschine konnte niemand bauen. Beim Wettbewerb um das sog. Turingkriterium (Ist die Maschine vom sprechenden Menschen noch unterscheidbar?) wurde mit Haken, Ösen und vielerlei Tricks gearbeitet. Dabei war eigentlich bald klar, daß ohne unendlich viel mehr Wissen über natürliche Sprachen einerseits und ihren Gebrauch andererseits wenig zu erreichen sein würde. Mein berufliches Fortkommen verlief, ex post gesehen, ganz konsequent von der Nachrichtentechnik und Tonmeisterei über Künstliche Intelligenz, Computerlinguistik und formale Linguistik zur Philologie. Dem entspricht die Folge seiner Orte: Technische Universität, Hochschule für Musik, Freie Volksbühne Berlin, Massachusetts Institute of Technology, Freie Universität. Nach monatelangem Blick in den Abgrund des Berufsverbots feste Anstellung in Hannover. Gabriele Hänsel und ich gründeten eine Familie, zu der außer uns die inzwischen erwachsenen Töchter Sonja und Johanna gehören. Ich wurde Professor für deutsche Philologie in Berlin und dann in Potsdam. Seit einer Reihe von Jahren arbeite ich an einer vergleichsweise umfassenden deutschen Grammatik, ein Unternehmen das einen Einzelnen eigentlich überfordert. Gute Gründe, daran festzuhalten, gibt es andererseits genug. Unter den gegebenen gesellschaftlichen und biologischen Bedingungen hat die Sprache eine Komplexität erreicht, die uns praktisch zwingt, ein inniges Verhältnis zwischen ihrer historisch gewordenen Form und der Brillanz ihres Funktionierens zu unterstellen, eine Komplexität aber auch, die dieses Verhältnis kaum preisgibt. Was aus dem riesigen Vorrat an möglichen Vokabularen und möglicher Kombinatorik tatsächlich stabil wurde, was Stabilität aufbrechen und die sprachliche Form bewegen kann, bleibt für den Grammatiker das Faszinierende. Oder anders: es gibt viel zu tun, noch für lange Zeit haben die Götter vor jeden Poststrukturalismus einen Strukturalismus gesetzt. Vom Zweiten war schon die Rede. Die sprachwissenschaftliche Arbeit verbindet sich von Anfang an mit der Absicht, diejenigen, die etwas über unsere Sprache wissen wollen oder müssen, auch tatsächlich zu erreichen. Es gehört zu den Absurditäten besonderer Art, daß ausgerechnet die im Kern der Disziplin angesiedelte »harte Linguistik« den Eindruck erweckt, ihre Ergebnisse hätten möglicherweise mit dem Gegenstand Sprache wenig zu tun. Das Problem existiert, aber es reduziert sich auf ein erträgliches Maß, wenn es gelingt, das Interessante den Interessierten zugänglich zu machen. Bitte erlauben Sie, in Ihrer Wahl auch eine Bestätigung dafür zu sehen, daß dieses in der Disziplin vorhandene Bemühen wahrnehmbar geworden ist. Damit habe ich den denkbar besten Anlaß, Ihnen für die Berufung in die Akademie zu danken.