Hermann Lenz

Writer
Born 26/2/1913
Deceased 12/5/1998
Member since 1974

Georg-Büchner-Preis

Nun ist’s leider auch schon über zweiundsechzig Jahre her, daß ich in der königlichen Landeshebammenschule in Stuttgart als Sohn des Seminaroberlehrers und späteren Studienrats Hermann Friedrich Lenz und seiner Ehefrau Elise geboren worden bin.

Jeder meiner Vorfahren hatte einen anständigen Beruf. Der eine Großvater war vom Leineweber – ›Zeugles-Weber‹ heißt das bei uns, weil er Bettzeug macht – zum Tuchhändler avanciert und leitete eine Dienststelle der königlich-württembergischen Post in Dürrmenz. Der andere ging als Feinmechaniker nach Amerika und machte dort, wie er zu erzählen pflegte, das feinste Instrument für die Sternwarte in Washington. Nach sieben Jahren kehrte er zurück, wurde Bataillonsbüchsenmacher und später – einer Handverletzung wegen – Wirt der Wirtschaft ›Zum Hasen‹ in Gablenberg bei Stuttgart. An seiner Haustür aber ließ er ein verschnörkeltes Schildchen befestigen, auf dem zu lesen stand: Julius Krumm, Büchsenmacher a. D.‹.

Von den Urgroßvätern ist einer als unehelicher Sohn eines schwäbischen Dekans zur Welt gekommen und ein anderer Müller in Grötzingen bei Nürtingen gewesen, wo er im Nachthemd Spinett spielte und sein Geld an Offiziere verlor. Auch er dürfte weder ein nervenstarker Schaffer noch das gewesen sein, was man eine dynamische Persönlichkeit nennt.

Ich gehöre also nach Süddeutschland. Mit Bayern und Österreichern überstand ich zwischen Leningrad und San Francisco einen Weltkrieg und wurde hernach Schriftsteller, nachdem ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr das Schreiben nicht hatte lassen können. Ich verdiente Geld als Sekretär eines Kulturvereins und eines Schriftstellerverbandes, letzteres zwanzig Jahre lang und bis die anderen meinten, jetzt sei es genug. Es hieß auch, ich sei für solch einen Posten zu resignativ und viel zu wenig dynamisch. Aber lassen wir das.

Obwohl ich allzu lange Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik studierte, habe ich bis heute nur zwei Examina bestanden: Die Aufnahmeprüfung für die Realschule zu Künzelsau in Hohenlohe-Franken und das Abitur. Einschließlich gewisser Unterbrechungen wie jenes bekannten Weltkrieges, wohne ich seit 51 Jahren im elterlichen Hause zu Stuttgart, das ich heuer verlassen muß. Meiner empfindlichen Veranlagung zum Trotz hatte ich bei kruden Veranstaltungen wie: Gefechten, Durchbrüchen, Bereinigungen von Einbruchsstellen und dergleichen als gemeiner Soldat der Fußtruppe dabeizusein; weshalb ich unsere Jugend beglückwünsche, weil ihr bis heute solch ein Dabeiseinmüssen erspart geblieben ist; denn sie hat nichts versäumt, auch wenn sie dies, wie aus gewissen Ersatzbefriedigungen, diesen Bombenanschlägen und Bankeinbrüchen, gefolgert werden könnte, dann und wann zu meinen scheint. Das Spannungsverhältnis zwischen Untergebenen und Vorgesetzten aber gehört – auch unter Schriftstellern – zu den, wie man heute sagt, systemimmanenten Zwängen. Und, wie wir alle wissen, soll der Schriftsteller heutzutage so etwas wie Sozialarbeiter sein (freilich bloß mit Wörtern), weshalb es mir manchmal so vorkommt, als sei es zumindest seit 1914 nie mehr so richtig gemütlich geworden.

Was aber mein Handwerk, das Schreiben, betrifft, so meinte ich früher, ich sei einer, der sich mit Wörtern ein Bild macht, also ein Bildermaler. Seit ich aber mit dem und jenem gesprochen habe, der etwas von mir gelesen hat, kommt es mir vor, als sei ich ein Spiegelmacher und meine Bücher seien Spiegel, in denen fast jeder Leser nur sich selber sieht. Und wenn man mich fragt, was ich lieber beschreibe: die Ordnung oder die Auflösung, so antworte ich, daß ich meine, es gehöre sich, beiden gerecht zu werden. Die Ordnung ist eine Illusion, und die Auflösung, das Chaotische, ist das Gegenwärtige, das immer gilt. Und das eine Wort dürfte wohl kaum ohne das andere existieren.

In einer Epoche wie dieser wird einer wie ich beide Vorgänge darstellen wollen, weil die sogenannte Zerstörung der bürgerlichen Welt nichts weiter ist als ein vielleicht faszinierender Begriff, der, im Sinne einer gewissen Ideologie, eine wünschenswerte Entwicklung umschreiben mag, die für mich nicht so wichtig ist, weil mir der sogenannte Verfall der bürgerlichen Welt als Illusion einer sich ablösenden Epoche erscheint. Ich meine auch, das sogenannte Bürgerliche oder die sogenannte bürgerliche Welt sei etwas, das als Einsicht, Meinung oder Phrase kurios und überlebt anmuten mag, obwohl vielleicht keiner von uns bis heute jemand begegnet ist, der ihm gesagt hätte, was an die Stelle jener sogenannten bürgerlichen Welt treten soll, zu der auch das gehört, was ich gemacht habe und mache.

Frage ich mich, was ich für bemerkenswert halte, so meine ich: über das sogenannte ›Dritte Reich‹ Bescheid gewußt zu haben, auch als es sich noch nicht vernichtend spreizte, und zu wissen, die Natur werde mich überleben. An einem klaren Septemberabend im Bayerischen Wald einen überwachsenen Weg entlangzugehen und nach Böhmen hinauszuschauen, das lohnt sich jedenfalls; freilich werde ich auch dort ein gewisses Fremdheitsgefühl nicht los. Und obwohl die ersten sechs Jahre, die ich als Analphabet verbracht habe, vielleicht die glücklichsten meines Lebens gewesen sind, möchte ich etwas geschrieben haben, das mehr ist als Druck und Papier.