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Born 11/3/1954
Member since 2017
Sehr verehrter Herr Präsident, Mitglieder und Freunde
der Akademie, meine Damen und Herren,
als ich gefragt wurde, ob ich die Wahl in die Deutsche Akademie für
Sprache und Dichtung annehme – eine Ehrung, die mich überrascht
und freut –, fielen mir beinahe gleich zwei Titel des russischen Linguisten
Roman Jakobson ein, der mir im Studium in den 1970er Jahren sehr
imponiert hat und auch später für das Übersetzen wichtig wurde: Linguistik
und Poetik, sein Aufsatz (bzw. das Schlusswort zu einer Konferenz),
in dem er die Poetik ganz selbstverständlich als Teil der Linguistik
behandelt, und Wort und Wortkunst (so die Übersetzung des Titels
einer Zeitschrift, Slovo a slovesnost, die er 1934/35 im Prager Exil begründet
hat). Immer – und das gefiel mir besonders – bestand er auf
der Verbindung zwischen den beiden Bereichen.
Das passt doch, fand ich in aller Unbescheidenheit, genau zu dem,
was ich tue: literarische, am liebsten sehr komplexe, poetische Texte
übersetzen und zu diesem Zweck, zum Nutzen hoffentlich auch der
teilnehmenden Kollegen und Kolleginnen, Workshops zu den unterschiedlichsten
Facetten der deutschen Gegenwartssprache (und früherer
Sprachzustände) veranstalten.
Ich habe einen Verein mitgegründet, Weltlesebühne e. V., der das
Thema Übersetzen und die Übersetzerinnen und Übersetzer selbst auf
die Bühne bringt und, in seinem Ableger, der Jungen Weltlesebühne,
auch vor Kindern und Jugendlichen, vor allem in Brennpunktschulen
und solchen mit hohem Migrantenanteil, auftritt. Dort tauschen sich
meine Kolleginnen mit den nicht selten mehrsprachig aufwachsenden
Kindern über einen Alltag zwischen den Sprachen aus, und die Kinder
genießen das – in so einer Schulstunde wird ihre oftmals als Makel behandelte
türkische, kurdische, arabische ... Familiensprache als Kompetenz
plötzlich interessant. Die Erwachsenen mussten für ihre Übersetzungssprache
oft ein ganzes Studium absolvieren.
Wie ist es zu alldem gekommen? Es waren einige Zufälle und Umwege
im Spiel – für Übersetzerbiographien nicht untypisch.
Ich war ein Flüchtlingskind und, obwohl nie geflüchtet, Inhaberin
eines Flüchtlingsausweises A. Beide Eltern trauerten der verlorenen
Heimat in den deutschen Ostgebieten nach, und wir Kinder bekamen
vermittelt, dass der neue Wohnort am Rhein in keiner Hinsicht mithalten
kann, dass er irgendwie nicht völlig real ist, dass das wirkliche
und das interessantere Leben sich irgendwo ganz woanders abspielt. Es
zog mich ins Ausland, ich schrieb mich für Slawistik und Germanistik
ein – letzteres, um Deutsch als Fremdsprache unterrichten zu können,
was ich ein Jahr lang in Japan auch getan habe. Doch was mich
antrieb, war auch ein allgemeineres Gefühl, das sicher viele in der Nachkriegszeit
Aufgewachsene teilten: dass Deutschland (dieses Wort gab
es eigentlich nicht mehr, die Bundesrepublik) keiner positiven Emotion
würdig ist; es herrschte Katerstimmung, man traute sich selbst nicht
über den Weg, und im Ausland konnte man, so zumindest damals mein
Empfinden, auch den älteren Menschen eher vertrauen.
Das ist lange her, und dank des Übersetzens und den damit verbundenen
Kontakten und Reisen habe ich einen Schwebezustand zwischen
hier und dort, aber auch in einem Raum zwischen den Sprachen erreicht.
Es ist ein Glück, und ich hatte das Glück, radikale Texte zu übersetzen,
deren Poetik ihrem Gegenstand bis ins Letzte entspricht. Es
begann mit Ossip Mandelstams Essay Gespräch über Dante. Ich habe
fast alle Moskauer Konzeptualisten übersetzt, die nur mit vorhandenem
Sprachmaterial arbeiten, Autoren der russischen und sowjetischen
Moderne (Andrej Belyj, Leonid Dobytschin) und sowjetische Untergrundliteratur.
Seit dreizehn Jahren arbeite ich an einer Werkausgabe
des Chronisten des sowjetischen Straflagers Warlam Schalamow, und
mein letztes Projekt war Andrej Platonow und sein extrem verdichtetes,
das utopische »Neusprech« aufgreifende und dabei von tiefer Melancholie
getränkte Werk Die Baugrube. Ich habe auch Theorie übersetzt: Michail Bachtins Buch über François Rabelais und den Karneval,
Schriften des Kultursemiologen Jurij Lotman, Arbeiten der Philosophen
Boris Groys und Michail Ryklin. Dazu kommen Lyrik, Texte zur
bildenden Kunst, auch Sachbuch, Publizistik ...
Ich habe Konferenzen mitveranstaltet, etwa zur Vergleichbarkeit
der interpretierenden Künste – Musik, Schauspiel, Sprechkunst – mit
dem Übersetzen ; seit beinahe dreißig Jahren treffen sich in meiner Ladenwohnung
jeden Monat Berliner und auswärtige Literaturübersetzer; und in diesem Wintersemester habe ich die Gelegenheit, an der FU
Berlin Poetik der Übersetzung zu unterrichten.
Berlin ist heute ein Einwanderungs- und Exilort geworden – davon
bleibt auch die deutsche Sprache nicht unberührt, deren Wandel mir
nicht nur als Forschungsfeld, sondern auch als ständige Quelle der Inspiration
dient. Vielleicht kann ich die vielfältigen Erfahrungen, die ich
in der Beschäftigung mit »Wort und Wortkunst« einsammeln konnte,
auch für die Arbeit in der Akademie produktiv machen.
Darum freue ich mich sehr und danke herzlich für die Aufnahme !