Debates on Europe III-V

Debatten
in Bukarest, Athen, Belgrad und Berlin

Angesichts der aktuellen Spannungen vor allem in Osteuropa diskutieren Schriftsteller und Wissenschaftler aus europäischen Ländern über zentrale Herausforderungen des europäischen Projekts.

2014 haben die Debatten in Bukarest (III), Athen (IV) und Belgrad (V) stattgefunden. Die Leitfrage war: »Wie viel Europa darf es sein?«. Die Protagonisten dieser Begegnungen sind Ende Februar 2015 in Berlin zusammenkommen, um ihre Positionen zu diskutieren.

Eine Kooperation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der S. Fischer Stiftung und der Allianz Kulturstiftung, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Slavenka Drakulić
Zu hohe Erwartungen

Wir richten zu hohe Erwartungen an die Kultur, wir hoffen, dass Kultur uns helfen wird, eine bessere, friedlichere und gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Dieser Idee liegt der Glaube zugrunde, dass Künstler und Intellektuelle, gebildete Leute im Allgemeinen, Wesen einer höheren moralischen Ordnung seien – aufgrund ihrer höheren Bildung sollten sie es besser wissen.

Dem ist nicht so. Immer wieder hat die Geschichte bewiesen, dass die Kultur auf sehr effiziente Weise Propaganda produzieren kann, insbesondere in totalitären Staaten. Warum? Weil die Moral von Kulturbürokraten und Künstlern sich nicht von der anderer Menschen unterscheidet. Darüber hinaus gab es im früheren Jugoslawien (aber auch anderswo) – eine Tradition der kulturellen Servilität dem Regime gegenüber; es gab kaum irgendeine andere Form von Kultur, die erwähnenswert gewesen wäre, und gewiss keine unabhängige kulturelle Produktion. Tatsächlich konnte man nur mit staatlichen Subsidien existieren – der bloße Selbsterhaltungstrieb zwang Künstler und Intellektuelle dazu, Staatsangestellte zu werden. In sozialistischen Ländern konnten sie außerhalb staatlicher Institutionen nicht existieren, weil es keinen freien Markt gab. Es gab niemanden, der sich unabhängig finanzieren konnte. Irgendwie musste man leben. Also arbeitete man in Institutionen, bei Zeitungen, in Schulen, an der Universität: Staatsinstitutionen, welche die kommunistische Partei kontrollierte.

Kein Wunder, dass dies die Personen waren, die in den 1980er Jahren den Nationalismus verbreiteten: Schriftsteller, Akademiker, Journalisten, Mitglieder von kulturellen Organisationen – allesamt kultivierte Menschen, die zu kleinen Rädchen in den nationalistischen Propagandamaschinen wurden. Ihre Aufgabe war es, in der Gesellschaft das Bild des »Anderen« herzustellen, die Menschen auf bewaffnete Auseinandersetzungen vorzubereiten, auf den Krieg. Sie machten ihre Sache sehr gut.

Ich erinnere mich an ein emblematisches Bild aus dem Jahre 1993: Radovan Karadžić – Dichter, Psychiater und Präsident der Republika Srpska – steht in den Bergen über Sarajewo. Neben ihm der russische Dichter Edward Limonow, der ein Maschinengewehr in Richtung der Stadt abfeuert. Seine Entsprechung findet Karadžić in einem kroatischen Intellektuellen, Slobodan Praljak. Er ist Philosoph, Film- und Theaterregisseur. Dieser Mann hat 1993 die Zerstörung der über vierhundert Jahre alten Brücke von Mostar befohlen. Mostar liegt in Bosnien und Herzegowina und wurde im Krieg zwischen Ost und West geteilt (im Osten liegen die muslimischen Viertel, im Westen die der Kroaten). Wie Karadžić endete auch Praljak vor dem Internationalen Gerichtshof in den Haag. Das Verfahren gegen Karadžić läuft noch; Praljak ist zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden, aber in Berufung gegangen. Inzwischen gilt er in Kroatien als Held, so wie Karadžić in Serbien.

Mit dem Zerfall des Kommunismus ereignete sich also Folgendes in Jugoslawien: seit 1985 herrschte ein massiver Kampf zwischen Intellektuellen in den Medien. Jemand hat es einen »Medienkrieg« genannt. Was heißt das? Es heißt zunächst einmal, dass eine Menge nationalistischer Texte erschien, noch ehe die Kriege ausbrachen. Besonders seit Slobodan Milošević in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre an die Macht kam. Nach 1985 prägte sich der serbische Nationalismus immer stärker aus. Er richtete sich nicht gegen Kroatien – nein, er richtete sich gegen das Kosovo. Es ist interessant, weil der Nationalismus – sozusagen – Milošević Flügel verlieh. Milošević war ein Opportunist, dessen einziges Ziel darin bestand, an der Macht zu bleiben.

Ich glaube, dass meine Generation der nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen, die letzte Generation derer war, die an den Sozialismus glaubten. Wir lebten gut, wir konnten reisen, wir hatten Geld, wir tauschten es auf dem Schwarzmarkt ein, wir fuhren nach Triest, um Schuhe zu kaufen. In der Schule konnten wir Englisch lernen, wir konnten ausländische Filme sehen, wir konnten ausländische Bücher lesen, also gefiel uns unsere Situation. In Polen gab es die Solidarność und Lech Wałęsa, in der Tschechoslowakei Vacláv Havel und die Charta 77, und so fort. Auch in Ungarn gab es zu jener Zeit anfangs einen gewissen Widerstand. In Jugoslawien jedoch gab es keinen, keine demokratische politische Alternative. Das wiederum bedeutet, dass in den Gebieten des heuten Serbiens, Kroatiens, Bosniens und so fort ausschließlich die Nationalisten gut organisiert waren.

Nach dem Verhalten der Intellektuellen des ehemaligen Jugoslawiens und mittlerweile auch jener der heute unabhängigen Republiken Serbien, Bosnien, Kroatien, Slowenien zu urteilen, scheinen sie nicht viel gelernt zu haben, denn sie klammern sich an die Macht wie zuvor. Wenn man in einer Demokratie abweichende Meinungen äußert, wird man nicht bestraft – jedenfalls gilt das theoretisch. Demokratie bringt keine Dissidenten hervor, nur Leute mit verschiedenen Ansichten. Viele aber haben vielleicht Angst. Warum? Weil man mit dem Aufbau demokratischer Institutionen noch nicht automatisch eine Demokratie hat. Es bleibt noch, die Mentalität der Menschen zu ändern. Man besitzt zwar, formell gesehen, eine Demokratie, es ist alles da, was demokratische Grundsätze erfordern. Aber das System, die Bevölkerung funktionieren nach den alten Prinzipien mit den alten Methoden (was natürlich die Ursache der allgemeinen Korruption ist), nach Partei- und Familienloyalitäten. Und solange diese Mentalität weiter besteht, ist es schwer, eine Demokratie zu entwickeln.

Aber wenn sich die Kultur in eine nationalistische Propagandamaschine verwandeln lässt, dann kann sie in einer Demokratie wohl auch die positive Rolle übernehmen, eine freie Zirkulation von Ideen zu ermöglichen – was der Schlüssel für eine langfristige Aussöhnung wäre.