Debates on Europe III-V

Debatten
in Bukarest, Athen, Belgrad und Berlin

Angesichts der aktuellen Spannungen vor allem in Osteuropa diskutieren Schriftsteller und Wissenschaftler aus europäischen Ländern über zentrale Herausforderungen des europäischen Projekts.

2014 haben die Debatten in Bukarest (III), Athen (IV) und Belgrad (V) stattgefunden. Die Leitfrage war: »Wie viel Europa darf es sein?«. Die Protagonisten dieser Begegnungen sind Ende Februar 2015 in Berlin zusammenkommen, um ihre Positionen zu diskutieren.

Eine Kooperation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der S. Fischer Stiftung und der Allianz Kulturstiftung, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Dubravka Stojanović
Die »Belgrader Debatte über Europa«: Integrationsmüdigkeit

Deprimierend, pessimistisch, bitter. Diese Attribute beschreiben die Konferenz in Belgrad zum Thema »Wovon wir reden, wenn wir von Europa reden« wohl am besten. An der Debatte nahmen führende Intellektuelle aus dem ehemaligen Jugoslawien – aus Slowenien, das seit über zehn Jahren in der Europäischen Union ist, aus Kroatien, dem jüngsten EU-Mitglied, und aus den Kandidatenländern bzw. potenziellen Kandidatenländern – teil. Und sämtliche Teilnehmer, woher sie auch kamen, vereinte eine gemeinsame Grundstimmung: Müdigkeit. Die schärfste Kritik an Europa kam ausgerechnet von den Intellektuellen aus den Mitgliedsstaaten selbst. Die anderen hatten wenigstens noch etwas Hoffnung.

Eine überwältigende Mehrheit der Teilnehmer sprach voller Nostalgie über Jugoslawien, manche sogar ein wenig über den Sozialismus, den sie, als sie noch in einem sozialistischen Staat lebten, aufs Heftigste kritisiert hatten. Sowohl Jugoslawien als auch der Sozialismus schienen in der Belgrader Debatte eine bessere Welt zu sein als Europa. Handelt es sich dabei nur um intellektuelle Klagelieder, um sinnloses Lamentieren, ohne konkrete Lösungen zu bieten?

Woher kommt diese Integrationsmüdigkeit? Ich glaube, dass einige Gründe dafür in den Gesellschaften des ehemaligen Jugoslawiens zu finden sind. Als die Volksgruppen Jugoslawiens in den Kriegen der 1990er-Jahre ihre jeweiligen Nationalstaaten schufen, einige davon zum ersten Mal in ihrer Geschichte, erwarteten sie, dass sich mit der neuen nationalstaatlichen Ordnung sämtliche Probleme lösen würden; dass sie unmittelbar nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit erfolgreicher würden, freier oder, wie sie gerne sagten, »sie selbst werden könnten«. Als sie jedoch ihr Ziel verwirklicht hatten, gefiel ihnen das, was sie vor sich sahen, nicht mehr. Es gelang ihnen nicht, Institutionen, einen starken Rechtsstaat und einen Wohlfahrtsstaat aufzubauen oder für Bürgerrechte und wirtschaftlichen Fortschritt zu sorgen. Und nun standen sie vor einem wirklichen Problem: Sie konnten nicht mehr Jugoslawien oder den Kommunismus für ihr Scheitern verantwortlich machen. Diesmal war es allein ihr Scheitern. Es musste also dringend ein Sündenbock her. Diese Rolle wurde zwangsläufig Europa zuteil. Mit anderen Worten: Sie sind enttäuscht von Europa, weil sie von sich selbst enttäuscht sind.

Enttäuscht von sich selbst und von Europa, weil, wenn sie von Europa sprechen, sie sich selbst als den heruntergekommenen Hinterhof eines Gebäudes mit prächtiger Fassade sehen. In Jugoslawien waren sie wichtige internationale Akteure im Kalten Krieg. Nun fühlen sie sich wie die arme Verwandtschaft aus der hintersten Provinz, die versucht, sich den Schmutz von ihren alten Klamotten zu wischen, und sich dafür nur noch mehr schämt. Sie haben sich in der Transformation verloren und es dabei versäumt, ihren Platz in Europa zu finden. Und Europa hat sich nicht in ihnen gesehen. Daher sprachen viele Teilnehmer von neokolonialistischen Beziehungen, Orientalismus oder dem neoliberalem Kapitalismus, der Ungleichheit auf Kosten der Armen fördert. Und das ist auch der Grund, warum das sozialistische Paradies Jugoslawiens ihnen wie ein Ideal der Zukunft erscheint und nicht wie eine Vergangenheit, die sie lange hinter sich gelassen haben. Die Müdigkeit wird zu Widerstand, und die neue euroskeptische Linke gewinnt an Popularität.
Irgendwann ist Europa auf seiner Reise vom Weg abgekommen. Daher sehen auch »wir« aus dem Hinterhof ein vereinfachtes Bild: Europa ist gleich EU, EU ist gleich Brüssel, Brüssel ist gleich die Staatskasse und die Staatskasse ist leer. Wie Srecko Horvat, der junge Linke aus Zagreb in Belgrad sagte: »Wir sind zur After-Party gekommen.« Europa hat zugelassen, dass man es mit schlechten Eltern gleichsetzt, Eltern, die ihr Kind mit Geld erziehen, und wenn das Geld aus ist, haben sie keine Argumente mehr. In der Regel sucht das Kind dann den Ausweg in der Rebellion oder fängt an, nach einer neuen Autoritätsperson zu suchen.

Diese Enttäuschung von sich selbst und von Europa ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Betrachtet man den europäischen Diskurs in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, kann man, wie einige der Teilnehmer an der Belgrader Debatte aufgezeigt haben, zu dem Schluss kommen, dass diese Länder Europa von außen betrachten, als »die Anderen«. Gemäß dieser Sichtweise ist Europa der Grund, weshalb wir Gesetze befolgen, Institutionen aufbauen, uns um nationale Minderheiten kümmern und Freiheiten schützen müssen. Es wird als Last angesehen, als Selbstaufgabe, als unerwünschter Zwang – und zwar sowohl von der Linken als auch von der Rechten. Für die Rechte ist es eine Bedrohung der nationalen Identität, die globalisiert wird und dem Schmelztiegel der Multikonfessionalität und des Multikulturalismus zum Opfer fällt. Für die Linke ist es der Gegensatz zu sozialen Rechten, die Ausbeutung des benachteiligten Südens, ein roher Markt ohne jegliche Werte. Und die europäische Krise hat beiden Seiten Argumente geliefert.

Die Sichtweise aus dem ehemaligen Jugoslawien war der Blick von außen – erschöpft, enttäuscht und mutlos. Das sagt viel über den Balkan aus, aber vor allem spricht es Bände über Europa. Es ist sein Spiegel. Erweiterungsmüdigkeit und Erwartungsmüdigkeit sind Teil ein und desselben Problems. Für Europa sollte dies ein Symptom sein, und nicht ein weiterer missverstandener »Balkanexotismus«. Während der Balkan und Europa jeweils »das Andere« im anderen sehen, sind sie blind für das eigentliche Problem.

Es stimmt, dass Europa (wie die Demokratie) in einer Krise sein muss; dass das sein natürlicher Zustand ist. Es ist auch wahr, dass die Bedrohungen größer werden, dass man es in Kiew und in Paris mit Bedrohungen zu tun hat. Aber damit Europa aus der Krise und den Bedrohungen stärker hervorgeht, wie in früheren Fällen historischer Unruhen, muss Europa sich selbst neu definieren und tiefgreifend reformieren. Es muss überdenken, was die Gemeinsamkeiten und was die Besonderheiten sind, bis wohin die staatliche Souveränität reicht und wo das gemeinsame Ziel beginnt. Und im Gegenzug müssen auch die ehemaligen jugoslawischen Staaten, die immer noch eine ethno-nationalistische Nabelschau halten, dasselbe tun. Die Balkanperspektive zeigt, dass das größte Problem Europas darin besteht, dass es sich selbst nicht mehr versteht, dass es nicht mehr »unseres« ist. Es wird erst wieder es selbst werden, wenn es wieder unseres geworden ist, wenn es mit dem Lösen von Problemen gleichgesetzt wird und nicht mit dem Problem.