Debates on Europe III-V

Debatten
in Bukarest, Athen, Belgrad und Berlin

Angesichts der aktuellen Spannungen vor allem in Osteuropa diskutieren Schriftsteller und Wissenschaftler aus europäischen Ländern über zentrale Herausforderungen des europäischen Projekts.

2014 haben die Debatten in Bukarest (III), Athen (IV) und Belgrad (V) stattgefunden. Die Leitfrage war: »Wie viel Europa darf es sein?«. Die Protagonisten dieser Begegnungen sind Ende Februar 2015 in Berlin zusammenkommen, um ihre Positionen zu diskutieren.

Eine Kooperation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der S. Fischer Stiftung und der Allianz Kulturstiftung, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

László Végel
Europäer vor dem Tor Franz Kafkas

Fünfundzwanzig Jahre trennen uns vom Fall der Berliner Mauer. Der Eiserne Vorhang von Jalta ist verschwunden, was nicht nur die Öffnung der Grenzen, sondern auch die Ablösung einst diktatorischer oder autoritärer Systeme durch eine auf der Grundlage des freien Marktes beruhende, parlamentarische Demokratie mit sich gebracht hat. Der sofortige Beitritt zur Europäischen Union wurde zur Parole der samtenen Revolutionen der Wendezeit. Europa war nicht nur eine wirtschaftliche, kulturelle und politische Frage, es verkörperte die neue Utopie. Die große Mehrheit der ostmitteleuropäischen Staaten trat der Europäischen Union bei, in der Folge beruhigten sich auch die ethnischen Leidenschaften im westlichen Balkan. Das waren die glücklichen Jahre Europas. Nach Ansicht der Historiker ging das kurze, aber blutige 20. Jahrhundert, das 1918 begonnen hatte, mit dem Jahr 1989 zu Ende.

Europäische Bruchstellen

Nach fünfundzwanzig Jahren stellt sich jedoch immer öfter die Frage, ob dieses blutige 20. Jahrhundert wirklich abgeschlossen ist oder ob es doch weiter in Agonie liegt.

Nach meinem Eindruck ist es an der Oberfläche noch ruhig, in der Tiefe hingegen lauern nach wie vor die Gegensätze des 20. Jahrhunderts. Das Lavameer des 20. Jahrhunderts blubbert und droht zu explodieren! Der Euroskeptizismus wächst, die rechtsradikalen, EU-feindliche Ideen propagierenden, politischen Parteien werden stärker. Das Heraufbeschwören einer Krise oder gar einer Gefahrenlage ist längst zu einem Gemeinplatz geworden, so dass wir es gar nicht mehr ernst nehmen oder als etwas, was nicht der Rede wert ist, vom Tisch wischen. Aber nur, weil wir über etwas nicht reden, kann es sich dennoch ereignen. Es sei an dieser Stelle an Thomas Mann erinnert, der schon frühzeitig gemahnt hatte: »Achtung, Europa!«

Es ist ein ziemlich irreführendes Phänomen, dass die Krise sich in unterschiedlichen Formen bemerkbar macht. In Westeuropa stellt sich die europäische Krise in erster Linie als eine wirtschaftliche dar, in Osteuropa dagegen ist das nur ein Segment, mit dem die allgemeine moralische, politische und kulturelle Krise kaschiert wird. Indem sie die Rezession betonen, versuchen die osteuropäischen Eliten die kulturelle, moralische und politische Stagnation zu verschleiern, mit der altbewährten Absicht, die Verantwortung dafür auf den Westen abzuwälzen. Wenn eine Regierung sich gezwungen sieht, den verschwenderischen, eine riesige, sinnlose Parteinomenklatur tragenden Staatsapparat einzuschränken, beruft sie sich auf die Europäische Union. Die Union ist der Sündenbock, den man jederzeit aus dem Hut zaubern kann! In der Regel gefallen sich die nationalen Regierungen jedoch in der Rolle des Beschützers der Nation gegen die Union. Mit dieser falschen Propaganda beginnt der Rückzug des Ostens aus der europäischen Einheit, so funktioniert der von heuchlerischen Regierungen angefachte Euroskeptizismus.

Fünfundzwanzig Jahre danach ist die Euphorie von '89 von der Kehrtwende des Ostens abgelöst worden. Immer unverhohlener stellen die Euroskeptiker und Ideologen der äußersten Rechten der Europäischen Union das Modell der illiberalen »Demokratie« entgegen und werden – eingestanden oder uneingestanden – zu Anhängern einer autoritären, nach dem Putinschen Führerprinzip funktionierenden Gesellschaft. Sie glauben, dass der auf dem Putinschen Führerprinzip beruhende Zentralismus ihr Land vor der drohenden Krise bewahren wird.

Der ostmitteleuropäische und balkanische Neo-Autoritarismus ist nichts Neues, er wurde der Wende schon in die Wiege gelegt. Diese vollzog sich ohne eine bürgerliche, parlamentarische Gesellschaft, einen freien Markt, eine kapitalistische Gesellschaftsstruktur, eine entwickelte Industrie, ein Bürgertum, das über ein autonomes, wirtschaftliches Fundament verfügt hätte. Das wichtigste Glied in der Kette, eine auch vom Staat unabhängige, bürgerliche Schicht fehlte! Die »samtenen Revolutionen« vollzogen sich ohne diese Schicht, sie wurden »von oben« durchgeführt. Nach dem Scheitern des Sozialismus entstand eine neue, der alten aber überaus ähnliche, verstaatlichte Gesellschaft. Die staatlich gelenkte Privatisierung und die staatliche Umverteilung begünstigten die Parteien und das Oligarchensystem, das die breiten Massen der liberalen Demokratie entfremdete. Der Staatssozialismus wurde vom Staatskapitalismus abgelöst. Es besteht also Grund zur Annahme, dass man weniger der Euroskeptiker – auch wenn ihre Bedeutung nicht unterschätzt werden darf – als der neuen, jeglichen Sozialempfindens und Wirklichkeitssinns entbehrenden, kulturellen und politischen Elite der deformierten Nationalstaaten wegen um die europäische Einheit fürchten muss. Die neue, kulturelle Elite, die bei ihrer Kritik am autoritären Sozialismus großen Mut bewiesen hatte, flüchtete sich nach der Wende schmollend in den turbokapitalistischen Elfenbeinturm und beklagte sich zugleich, an die Peripherie gedrängt worden zu sein. Die Darstellung der menschlichen Schicksale der primären Kapitalakkumulation rückte aus dem Fokus des Interesses. Lesen wir etwa Lehrjahre des Herzens von Gustave Flaubert, eines namhaften Vertreters der »hohen Literatur«, müssen wir feststellen, dass darin mehr Politik steckt als in den Romanen, die nach der Wende in Osteuropa entstanden sind. Die Schriftsteller enthielten sich jeglicher Systemkritik, aus Angst, dass sie sozialistischer Nostalgie beschuldigt werden könnten. Im Mehrparteiensystem wurde der mittelosteuropäische Schriftsteller zahm oder nahm Reißaus, in den meisten Fällen wurde er feige. Auf internationalen Konferenzen beklagt er die Expansion des Nationalismus, er schreibt aber keine Romane, die die Schicksalsfragen der Geschichte oder der Gegenwart authentisch darstellten. Thomas Bernhard war kein Kind des Postsozialismus! Immer stärker verbreitet sich unter den Menschen die Idee von einer egalitären Utopie, wächst das Misstrauen gegenüber den Parlamenten, die Angst vor der »Anarchie«, der dann ein Führer mit harter Hand Einhalt gebieten wird. Wir sind wieder dort angelangt, wo wir schon einmal waren.

Gutnachbarliche Bruchstellen

Die Wende hat die alte Teilung Europas, die nun nicht mehr nur politischer, sondern auch wirtschaftlicher und kultureller Natur ist, aufgedeckt. Die Wende hat aber auch die zwischen den ostmitteleuropäischen Kleinstaaten bestehenden, durch den Friedensvertrag von Jalta vorübergehend unter den Teppich gekehrten Spannungen wieder ans Tageslicht gebracht. Das geschah etwas verspätet, deshalb kam es zu Deformationen bei der Bildung der Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung und der europäischen Einigung. Eine Folge dieser verspäteten Nationenbildung ist die kulturelle, moralische und politische Krise Ostmitteleuropas und des Balkans, deren Ursache im ungeklärten Verhältnis von Staat und Nation liegt. Denn in diesem Teil Europas entstanden die Nationalstaaten wesentlich später als die Nationen. Deshalb stimmen die nationalstaatlichen Grenzen mit den ethnischen Grenzen keinesfalls überein. Eine gerechte Grenze gibt es nicht! Diese Tatsache verstärkt und zementiert die Spannungen zwischen den Staaten, das gegenseitige Misstrauen, den Argwohn. Die politischen Eliten bedienen sich natürlich dieses jahrhundertealten Traumas, das zu ständigen ethnischen Spannungen führt, auch dann, wenn die jeweiligen Länder inzwischen Mitglieder der Europäischen Union sind. Siehe etwa die Beziehungen zwischen Ungarn und Rumänien oder Ungarn und der Slowakei. Aber auch außerhalb der EU stellen sie eine Gefahrenquelle dar, wie vor allem die gegenwärtigen Ereignisse in der Ukraine beweisen. Und auch die bosnische Frage kann nicht als gelöst angesehen werden. Einen eigenen Gefahrenherd stellt das Verhältnis zwischen den peripheren EU-Ländern und den Ländern außerhalb der EU dar. Eine Problemzone stellen hinsichtlich der ethnischen Fragen auch die baltischen Staaten und Russland dar. Spannungsgeladen ist aber auch das Verhältnis zwischen Griechenland und Mazedonien. Wohin wir auch blicken, im Osten dominiert die Idee der Ethnizität, sie allein vermag die breiten Massen zu mobilisieren.

Die Erklärung dafür liegt im Wesen der Nationalstaaten. Die siegreichen Großmächte des Westens hatten sich eine friedliche Lösung der Konflikte, die in den Ersten Weltkrieg geführt hatten, durch die Entstehung von Nationalstaaten erhofft. In diesem Sinne wurde der Friedensvertrag von Versailles aus der Taufe gehoben, alsbald stellte sich jedoch heraus, dass die neu entstandenen Nationalstaaten den Minderheiten gegenüber noch härter auftraten als die einstigen Imperien. Denn die neuen Nationalstaaten Ostmitteleuropas und des Balkans unterschieden sich fundamental jenen westlichen Schlags. Im Westen war der Nationalismus, der Nationalstaat – darin muss man Gellner Recht geben – eine Errungenschaft des Bürgertums, im östlichen Teil dagegen führte die Unsicherheit der Grenzen, die Perpetuierung der Spannungen zwischen den Nationen und das Fehlen eines Bürgertums nicht zu einem bürgerlichen Nationalismus, sondern zu einem vormodernen Ethnizismus. Der Friedensvertrag von Versailles erhob also nicht den bürgerlichen Nationalismus, sondern den Ethnizismus zur Staatsdoktrin und erschuf dadurch die hysterische Situation, die den Zweiten Weltkrieg heraufbeschwor. Ihrer bediente sich der Nazismus, sie war aber auch ohne ihn ein Pulverfass. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich der Prozess der Nationalstaatenbildung fort. »Am Ende des Ersten Weltkriegs wurden Grenzen ausgedacht und verändert, während die Menschen im großen und ganzen an ihrem Platz blieben. Nach 1945 geschah eigentlich das Gegenteil: mit einer wichtigen Ausnahme blieben die Grenzen an ihrem Platz, dafür wurden die Menschen umgesiedelt«, schreibt Tony Judt. Nach Kriegsende, also nicht während des Krieges!, sondern nach den Feindseligkeiten, kamen nahezu eine Million Zivilisten ums Leben. Zwölf Millionen Deutsche verschwanden aus Osteuropa. In der Tschechoslowakei und in Jugoslawien wurden neben den Deutschen auch die Ungarn verfolgt. Nach maßgeblichen Zählungen endeten in Serbien 15-20000 Ungarn in Massengräbern, die Zahl der Deutschen ist noch erheblich höher. Es kam zum polnisch-ukrainischen Bevölkerungsaustausch, bei dem zweieinhalb Millionen Menschen mobilisiert wurden. Es kam auch zum ungarisch-slowakischen Bevölkerungsaustausch. Die Minderheiten wurden in Osteuropa im Namen des Nationalstaates »ausgemerzt« oder dezimiert! Nach 1944 wurde die Holocaust-Kultur (Definition von Imre Kertész) durch die Kultur der Massengräber ersetzt. Dieser riesige, europäische Exodus, diese Völkerwanderungen und ethnischen Säuberungen wurden stets im Namen des Nationalstaates umgesetzt. Der Kalte Krieg hat davon abgelenkt, aber man hätte dieses Thema nach der Wende erneut auf die Tagesordnung setzten müssen.

Der Zerfall Jugoslawiens in der jüngsten europäischen Geschichte hat noch einmal verdeutlicht, mit welchen Opfern die Nationalstaatenbildung verbunden ist. Die Wiederherstellung der gutnachbarlichen Beziehungen lässt weiter auf sich warten, dazu ist es bis heute nicht gekommen. Es fehlt die Katharsis: die Konfrontation mit der Vergangenheit, die Abrechnung. Ich kann vorbehaltlos behaupten, dass im schmerzvollen und widersprüchlichen Prozess der europäischen Einigung gerade die Spannungen unter den Nachbarn das größte Risiko darstellen.

Bruchstellen der Identität

Es wird also Zeit, von der hohen Warte Brüssels herabzusteigen und das Europa der vielen Alltäglichkeiten zur Kenntnis zu nehmen. Eine glaubwürdige, europäische Alternative verkörpert auch nicht jener mondäne Kosmopolit, der sich neuerdings Européer nennt. Diese Intellektuellen tragen in ihrem Koffer neben ihrem Laptop künstliche Wurzeln, nehmen diese, wenn sie aus dem Flugzeug steigen, heraus und »schlagen Wurzeln«, wo auch immer sie sich gerade aufhalten mögen. Nicht solcher künstlicher Pseudowurzeln, echter, europäischer Wurzeln bedarf es! Vergessen wir einen Moment diese Flughafenperspektive, die Performance, versuchen wir Europa einmal aus der unteren Sicht zu betrachten. Im ostmitteleuropäischen und balkanischen Turbokapitalismus wächst das Gefühl der Enttäuschung, der Verwaisung, der Heimatlosigkeit. Die breiten Massen sind nicht europafeindlich, sie fühlen sich vielmehr nirgendwohin gehörig. Unter dem Eindruck des wachsenden sozialen Ungleichgewichts hat sich in den östlichen Regionen die Abwanderung beschleunigt. Sie ist nicht mehr nur politischer, wirtschaftlicher Natur, denn es gehen die Facharbeiter, die – wenn auch schwer und für unwürdige Arbeitslöhne – auch in ihrer Heimat Arbeit finden könnten. Diese Hunderttausenden machen sich nicht der Armut wegen auf den Weg, sondern weil sie in ihrer Heimat keine Zukunftsperspektive sehen. Und zwar deshalb, weil das Oligarchensystem das moralische Vertrauen in die individuelle Leistung zerschlagen hat. Auch diese allgemeine moralische Krise ist ein Faktor dieses Exodus. Ostmitteleuropa hat die Wende durchgeführt, die moralische Werteordnung des Sozialismus zerschlagen, an ihrer Stelle jedoch keine neue geschaffen. Die Privilegien des Einparteiensystems wurden durch die Privilegien des Mehrparteiensystems ersetzt, die sich beim Ergattern der Arbeitsplätze genauso geltend machen wie im geistigen Leben jenseits der Politik. Die neue Klasse missachtet die moralischen Werte noch viel mehr, als es die sozialistische Nomenklatur getan hatte.

Der Bürger Ostmitteleuropas befindet sich also in einem kulturellen und moralischen Vakuum. In seiner Heimat wird er heimatlos, wenn er sie verläßt, wird er es auch in Europa. Ich habe in einem meiner Bücher (Sühne, 2012) versucht, dieses Phänomen am Beispiel der Fahrgäste eines zwischen Südserbien und Berlin verkehrenden Busses voller Gastarbeiter zu zeigen. Dieser Bus ist paradigmatisch für die neue ostmitteleuropäische und balkanische Heimatlosigkeit. Nicht nur die Gastarbeiter sind heimatlos, die Osteuropäer selbst, die vor dem Fall der Berliner Mauer noch das Gefühl hatten, in einem sicheren Gefängnis zu leben, sich nach der Wende aber in einer Wüste der Unsicherheit wiederfanden, sind es auch. Im Roman ist der Schaffner der neue Vergil, der die Fahrgäste kreuz und quer über die Autobahnen Europas lotst. Am Anfang sind die Reisenden militante Nationalisten, auf dem Weg nach Berlin erkennen sie aber immer deutlicher, dass ihre Identität beschädigt und erschüttert ist. Ihr mitreisendes Kind schreit auf, erklärt kurzerhand, dass es deutsch sei. Sie versuchen, ihm dies auszureden, und werden dabei selbst unsicher, denn sie sind ja alle heimatlos. Das Kind des Gastarbeiters, das fern der Heimat geboren wurde und ein deutscher Staatsbürger ist, ebenso wie das Familienoberhaupt selbst, das im Besitz der doppelten Staatsangehörigkeit ist. Sie müssen sich eingestehen, dass sie nicht einmal wissen, wo sie einst beerdigt werden sollen. Die militanten Nationalisten, die Serben, die Mazedonier, die Albaner gehen einander an die Gurgel, doch sobald sie die Grenze nach Deutschland überqueren, unterhalten sie sich in einer Art Tarzan-Deutsch und kommen ganz gut miteinander aus. Der Serbe erklärt dem Albaner geduldig auf Deutsch, wie man die deutschen Sozialeinrichtungen hereinlegen kann. Unterwegs klärt der Schaffner seine Fahrgäste über die Toiletten auf. In Serbien seien die Toiletten entlang der Strecke in schrecklichem Zustand, berichtet er, deshalb werde der Bus gar nicht erst halten. In Ungarn seien sie schon besser, allerdings röchen sie stark nach Chlor, in der Slowakei seien sie erträglich, aber kostenpflichtig, in Deutschland hingegen seien sie prima und dazu umsonst. Er fügt aber auch hinzu, dass in Dänemark und Holland eine regelrechte Toiletten-Kultur herrsche, dort gäbe es die besten Apparate zum Geruchsentzug. Dann gerät er ins Grübeln. Er erinnert sich an seine Reisen durch Jugoslawien und erzählt, dass die Toiletten auch dort in sehr unterschiedlichem Zustand gewesen seien. In Serbien seien sie immer vernachlässigt gewesen, in Kroatien etwas gepflegter, in Slowenien hingegen schon ganz erträglich. Wie hätte auch ein Land, dessen Toiletten qualitativ so unterschiedlich waren, geeint bleiben sollen, fragt er sich. Plötzlich kommt ihm bei seinen Überlegungen der Gedanke, ob denn die EU wird fortbestehen können, wenn ihre Toiletten in so unterschiedlichem Zustand sind.

Der Schaffner ist aufrichtig pro-europäisch eingestellt. Er gibt sogar zu, zu Titos Zeiten nur deshalb in den Kommunistischen Bund eingetreten zu sein, um nach Europa reisen zu können, denn Auslandsreisen seien ausschließlich Parteimitgliedern gestattet gewesen. Er nimmt sogar in Kauf, dass seine Kinder ihn wegen seiner Parteimitgliedschaft herablassend behandeln.

An der Endstation Halensee in Berlin steigen die Fahrgäste aus dem Bus, »europäisieren« sich irgendwie auf Kosten ihrer eigenen Identität. Ich bin überzeugt davon, dass die Geschichte dieses Autobusses nicht nur von den Gastarbeitern, nicht nur von den Ostmitteleuropäern, sondern von den Europäern an sich handelt. Der Unterschied besteht höchstens darin, dass erstere das Drama des sich vereinigenden Europas intensiver durchleben. Von der hohen Warte Brüssels herabzusteigen heißt also, nicht nur den Vereinigungsprozess an sich zu sehen, sondern sich auch des damit verbundenen menschlichen Dramas bewusst zu werden. Die Vereinigung Europas bildet vielleicht den größten Umbruch in der Geschichte des Kontinents und kann nicht durch ein paar Gemeinplätze umrissen werden. Im Augenblick ist die Europäische Union ein Verbund von Nationalstaaten, in dem die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Eliten dieser Nationalstaaten skeptisch gegenüber jener Organisation sind, die sie selbst erschaffen haben. Im Zeitalter kleinlicher Verhandlungen schließen die Politiker winzige Kompromisse, die alle provisorischen Charakters sind. Wir sitzen im Autobus, wir wissen, wo wir abgefahren sind, wir sind uns aber nicht sicher, wo wir ankommen werden. Die Europäische Union existiert, aber die politische Identität Europas erschöpft sich in banaler Phrasendrescherei. Halb national, halb europäisch, heißt es in den diplomatischen Formulierungen, aber was die Verschmelzung beider bedeutet, darüber weiß man nichts. Über diese Verschmelzung wird bisher nicht geredet! Die intellektuellen Apologeten des Europäertums bekunden täglich ihre Liebe zu Europa, aber die Ehe mit ihm einzugehen, trauen sie sich dann doch nicht, es sind vorsichtige Vögel, sie schreiben nicht einmal einen Ehevertrag. Die europäischen Werte, die Menschenrechte, die Würde des Individuums, usw. haben schon viele definiert, die europäische Identität hingegen bleibt bis zum heutigen Tag unsicher, nebulös und höchst widersprüchlich. Indessen saust der Bus mit uns auf unbekannten Wegen dahin und bremst am Ende der Zeitreise schließlich vor einem Tor. An dieser Stelle kann ich nicht umhin, Franz Kafka zu paraphrasieren: Vor dem offenen Tor steht der Türhüter der Europäischen Union. Die Reisenden aus dem Autobus warten darauf, dass der Türhüter ihnen Einlass gewährt. Jahrzehnte vergehen, die Reisenden überspielen ihre Hilflosigkeit mit fröhlichen Picknicks. Die Flohmarktatmosphäre versetzt alle in Begeisterung, inzwischen ergrauen sowohl die Reisenden als auch der Türhüter. Schließlich werden die Reisenden ungeduldig, wie lange denn noch, fragen sie, wann werden sie endlich hereingelassen? Worauf der Türhüter erwidert: Das sei das Tor zur Europäischen Identität, das ausschließlich für die Reisenden des Autobusses bestimmt gewesen sei, es tue ihm unendlich leid, dass die Herrschaften von der Gelegenheit keinen Gebrauch gemacht hätten. Und so hocken wir hilflosen, feigen Europäer fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer (noch immer) vor dem Tor Europas.


Aus dem Ungarischen von Akos Doma