Debates on Europe III-V

Debatten
in Bukarest, Athen, Belgrad und Berlin

Angesichts der aktuellen Spannungen vor allem in Osteuropa diskutieren Schriftsteller und Wissenschaftler aus europäischen Ländern über zentrale Herausforderungen des europäischen Projekts.

2014 haben die Debatten in Bukarest (III), Athen (IV) und Belgrad (V) stattgefunden. Die Leitfrage war: »Wie viel Europa darf es sein?«. Die Protagonisten dieser Begegnungen sind Ende Februar 2015 in Berlin zusammenkommen, um ihre Positionen zu diskutieren.

Eine Kooperation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der S. Fischer Stiftung und der Allianz Kulturstiftung, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Ivan Čolović
Keine Liebe.

Ein Beispiel für den proeuropäischen Diskurs in Serbien

Einige Worte über den offiziellen proeuropäischen Diskurs in Serbien, darüber, auf welche Weise, mit welchen Worten, mit welchen Argumenten unsere Regierungspolitiker die Integration Serbiens in die Europäische Union darstellen und begründen. Ich denke, dieses Thema verdient unsere Aufmerksamkeit und sollte diskutiert werden. Warum ich so denke, werde ich versuchen, anhand eines Beispiels zu erklären. Die Rede ist von einem Artikel von Aleksandar Vučić mit der Überschrift »Die Serben müssen nach Europa«, erschienen am 13. Mai des Vorjahres, als Vučić Vorsitzender der regierenden Serbischen Fortschrittspartei, stellvertretender Ministerpräsident und Verteidigungsminister war. In diesem Artikel präsentierte er sich als entschlossener Anhänger einer Wende Serbiens hin zur Europäischen Union.

Zunächst erklärte er, Serbien hätte lange Zeit nicht begriffen, welche Veränderungen nach dem Fall der Berliner Mauer und nach der Bildung der Europäischen Union in Europa stattgefunden haben, sodass Serbien zum eigenen Nachteil außerhalb der europäischen Integrationsprozesse gestanden hätte. Serbien habe die Ziele seiner Politik nicht realisiert und sich viele Feinde gemacht. Es sei nun an der Zeit – sagte Vučić – dies zu ändern und die versäumte Zeit nachzuholen. Serbien müsse die Werte, die Gesetze und Vorschriften zur Regulierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse zwischen den Mitgliedsstaaten der EU annehmen. Dies müsse getan werden, zählt er dann auf, damit Serbien »erfolgreicher, moderner und stärker« werde, »führend in der Region in puncto Einkommen und Pensionen, hinsichtlich der Wirtschaftsdaten, sowie in Bezug auf die politische und jedwede andere Stabilität«. Serbien solle »ein Ort der wirtschaftlichen und politischen Prosperität« werden.

Wenn Serbien sich also an die Europäische Union annähert und die europäischen Normen akzeptiert, für die Vučić sich an dieser Stelle einsetzt, dann wird von Serbien nicht verlangt, die Politik der 1990er Jahre, die zur Isolierung des Landes geführt hatte, einer Prüfung zu unterziehen. Die Ziele dieser Politik gelten nämlich nicht als umstritten – auch in dem besagten Artikel werden sie nicht in Frage gestellt. Der Autor beschränkt sich darauf, die Mittel zu kritisieren, die für die Umsetzung dieser politischen Ziele eingesetzt wurden, sowie Kritik zu üben an der Mentalität, die scheinbar verantwortlich ist für die Anwendung dieser falschen, inadäquaten Mittel. Er schreibt Folgendes über seine kritische Konfrontation mit den Fehlern der Politik Serbiens in den 1990er Jahren:

»Wir lebten in der Vergangenheit und schwelgten leichtsinnig in unserem heroischen Widerstand gegen jede Idee, die von außerhalb aus der Welt kam, und erwarteten, wir könnten mit der Unterstützung des Planeten Mars oder eines anderen Planeten die Grenzen nach unseren Vorstellungen ziehen und Gehälter beziehen wie jene, die doppelt so viel arbeiteten wie wir. Selbstverständlich konnte diese Rechnung nicht aufgehen [...] Kam uns unsere Trotzhaltung nicht etwa allzu teuer zu stehen? Hätten wir in unseren Wünschen und Forderungen nicht realistischer sein können, hätten wir nicht fleißiger um Unterstützung für unsere politischen Standpunkte buhlen können, oder haben wir uns lediglich auf unsere Muskeln und eine epische Rhetorik verlassen und erwartet, dass es Geschenke vom Himmel regnen möge?«

Das heißt, »die Grenzen nach unseren Vorstellungen ziehen« war für Vučić also keine fragwürdige Zielvorstellung. Nein, es handelte sich dabei gar nicht um ein politisches Ziel, sondern um das natürliche, legitime Bedürfnis des Volkes, ebenso wie der Wunsch der Bevölkerung nach höheren Gehältern, weshalb Vučić diese beiden Wünsche, die angeblich vom Volk ausgehen, in einem Atemzug nennt. Aber, gibt er zu bedenken, Grenzen und Gehälter nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, ließe sich nicht mit Gusle-Gesang und Trotzhaltung erlangen, sondern man müsse dafür ernsthaft und fleißig arbeiten. Mit anderen Worten, die Politik war hier ganz okay, mit den politischen Zielvorstellungen aus den 1990er Jahren ist alles in Ordnung, aber fehlerhaft ist die Mentalität, die den Erfolg dieser Politik verunmöglicht hat. Das ist es, was Serbien wird verändern müssen, um Teil Europas zu werden, während es keinen Grund gibt, an den politischen Haltungen zu rütteln: »Serbien kann und will ein verlässlicher Partner für alle in der Region und in Europa sein«, schreibt Vučić, »ein Land, das seine Haltungen nicht verhehlt und sich für sie nicht schämt.«

Wie sich anhand dieses Beispiels für den öffentlichen proeuropäischen Diskurs ablesen lässt, wird die EU-Beitrittspolitik Serbiens so positioniert, dass sich keine klare Abgrenzung von der Politik Serbiens in den 1990er Jahren vollzieht, es also keinen Bruch mit der ideologischen Matrix, die dieser Politik zu Grunde lag, gibt. Deshalb bleibt das Engagement für ein europäisches Serbien weiterhin ambivalent, um nicht zu sagen fadenscheinig, und dies gilt auch für andere Beispiele des heutigen proeuropäischen Diskurses serbischer Politiker, die der Meinung sind, es sei ausreichend, dass die serbische Politik sich pragmatisch an den EU-Beitritt anpasst, aber es sei nicht nötig, die Politik von Grund auf zu verändern.

Die Form, die Vučić gewählt hat, um seine Meinungen zu diesem Thema zu kommunizieren, deutet darauf hin, dass der Veränderungswille Serbiens im Hinblick auf eine Annäherung an die EU ambivalent zu sehen ist. Vučić entschied sich dafür, sich als Serbe an die Serben zu wenden und dabei von der Position eines serbischen »Wir« zu einem entgegengesetzten europäischen »Sie« (im Plural) zu sprechen. Allein dadurch zog er eine genrebezogene, kommunikative Grenze im Diskurs über den EU-Beitritt Serbiens, denn »wir Serben« und »sie Europäer« werden dadurch zu Protagonisten einer traurigen Erzählung, in der beide für immer fatal getrennt bleiben, ohne eine Chance, jemals einander näherzukommen. Eine solche Chance können sie in Vučićs Version dieser Erzählung selbstverständlich niemals erhalten. Als Ersatz für die angeblich unmögliche Annäherung an die Europäer schlägt Vučić vor, sich trotzdem irgendwie innerhalb Europas anzupassen. Diesen Vorschlag formulierte er folgendermaßen: »Können wir Serben uns ebenfalls anpassen? Ich denke, wir können. Genau genommen müssen wir das. Nicht wegen der Europäer, sondern unseretwegen und wegen der Zukunft Serbiens. Wir müssen die Europäer auch nicht lieben, was uns nicht schwerfallen wird, aber wir können und müssen ihre Gesetze, Regeln, Ordnung, Rechte und Verpflichtungen respektieren, sowie all das, was daraus resultiert: eine erfolgreiche und fortschrittliche Wirtschaft.« Ich stelle mir vor, dass die Fürstin Milica ihrer Tochter Olivera etwas Ähnliches erzählte, als sie ihr nach der verlorenen Schlacht vom Amselfeld erklären musste, dass sie von nun an den Weg der osmanischen Integration beschreiten müsste, das heißt, Sultan Bayezid heiraten und seinem Harem beitreten.

Nun möchte ich zum Abschluss dieser kurzen, siebenminütigen Analyse eines Beispiels für einen proeuropäischen Diskurs in Serbien kommen. Ich habe zwei Aspekte identifiziert, die zeigen sollen, dass dieser Diskurs ambivalent geführt wird. Zum einen wird von offizieller Seite nicht gefordert, dass im Hinblick auf einen EU-Beitritt Serbiens die ideologischen Prinzipien der Politik der 1990er Jahre geändert werden, die Serbien damals in einen Konflikt mit Europa geführt hatten, sondern es wird sogar suggeriert, eine dahingehende Veränderung sei gar nicht notwendig. Außerdem wird der angebliche Einsatz für den EU-Beitritt Serbiens als eine Erzählung von einem »Wir« gegenüber einem »Sie« dargelegt, was typisch ist für die nationalistische Mythologie, also für ein kommunikatives Register, das ein entsprechendes Engagement von vornherein einschränkt. Dieses Beispiel für den offiziellen proeuropäischen Diskurs in Serbien legt den Schluss nahe, dass eine Reproduktion und Kontinuität des herrschenden nationalistischen Paradigmas zu verzeichnen ist, anstatt, dass Anstrengungen unternommen würden, dieses hinter sich zu lassen. Ich befürchte, dass eine Analyse weiterer, neuerer Beispiele für diesen Diskurs zu demselben Ergebnis kommen würde.

Aus dem Serbischen von Mascha Dabić