Debates on Europe III-V

Debatten
in Bukarest, Athen, Belgrad und Berlin

Angesichts der aktuellen Spannungen vor allem in Osteuropa diskutieren Schriftsteller und Wissenschaftler aus europäischen Ländern über zentrale Herausforderungen des europäischen Projekts.

2014 haben die Debatten in Bukarest (III), Athen (IV) und Belgrad (V) stattgefunden. Die Leitfrage war: »Wie viel Europa darf es sein?«. Die Protagonisten dieser Begegnungen sind Ende Februar 2015 in Berlin zusammenkommen, um ihre Positionen zu diskutieren.

Eine Kooperation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der S. Fischer Stiftung und der Allianz Kulturstiftung, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Fatos Lubonja
Kultur der Demokratie – Kultur in der Demokratie

Lost in Transition

Als ich dem Referat »Lost in Transition« von Nenad Veličković zur Situation in Bosnien lauschte und die Bilder betrachtete, die er uns zeigte, war ich von der großen Ähnlichkeit mit der Lage in Albanien beeindruckt. Es hätte mein eigenes Referat über Albanien sein können – vor allem, was die Verkümmerung des öffentlichen Raumes angeht, die Polarisierung von wenigen Reichen einerseits und andererseits den Armen; den Triumph der Konsumkultur und den Mangel an Solidaritätsgefühlen.

Andrei Pleşu hat die Frage gestellt, wer hierfür verantwortlich ist. Wenn ich im Hinblick auf die Geschehnisse in Albanien antworten sollte, dann könnte ich die Verantwortung auf zwei Faktoren aufteilen, die mir in gewisser Weise als zwei Seiten derselben Münze erscheinen.

Zunächst einmal ist es die Verantwortung des vergangenen Regimes. Das nannte sich Sozialismus, aber tatsächlich war dies ein Regime gegen die Gesellschaft, gegen jegliche societas; es schuf eine erzwungene Kollektivierung, aber keine Gesellschaft. Die Diktatur machte uns zu Kindern. Der Staat nahm uns alles ab – beginnend mit den Schulen und dem Beruf bis hin zu unseren Ideen; er erzwang seine eigene Form des Denkens und des Handelns. Alle Verantwortung lag beim Staat. In diesem Sinne glichen wir Kindern, die kein kritisches Denken entwickelten und kein Gefühl der Verantwortlichkeit füreinander. Wir entwickelten kein Instrumentarium zur Erschaffung wirklicher Gemeinschaften, einer wirklichen Gesellschaft. Als der paternalistische Staat zusammenbrach, zeigten diese verantwortungslosen Kinder blitzschnell die andere Seite der Münze: Wir entwickelten sofort jenen extremen Individualismus, der seinerseits keine Verantwortlichkeit für die anderen kennt.

Zweitens kam ein Faktor von außen hinzu, aus dem Westen: Das war der Triumph des Neoliberalismus in den 1990ern, der sich im Diktum von Margaret Thatcher verkörpert: »Es gibt so etwas wie Gesellschaft nicht; es gibt nur Individuen.« Es hieß, wenn in dem Kapitalismus, den wir aufzubauen begannen, nur jeder ausschließlich für sich selbst sorgen würde, dann wäre auch insgesamt alles in Ordnung. Die Vermählung der Kinder ohne Verantwortlichkeit und ohne kritisches Denken mit der neoliberalen Theologie à la Thatcher erzeugte das Ungeheuer, das Veličković beschrieben hat.

Hier möchte ich etwas zu dem Begriff des Übergangs sagen, der in jenen Jahren eine so große Rolle in unseren Diskursen gespielt hat. Zu Beginn der 1990er Jahre stellten wir im Osten uns in etwa vor, wir seien auf der einen Seite des Flusses und müssten nun ein Boot nehmen und auf die andere Seite fahren, hinüber nach Europa, das so etwas wie das verheißene Land war. Schon der zitierte Titel des Referats von Veličković deutet an, dass wir den Weg auf die andere Seite des Flusses nicht mehr wissen. Meiner Ansicht nach war das überhaupt eine irrige Vorstellung, nicht nur deshalb, weil Europa seine eigenen Probleme hatte, sondern weil wir Europa als einen statischen Ort begriffen und nicht als etwas, das seinerseits in Bewegung war. Ein alter schwedischer Freund, Gerald Nagler, der Generalsekretär der Helsinki-Föderation, hat mir einmal von seiner ersten Begegnung mit Václav Havel erzählt. »Ich habe zu Havel gesagt: Sagen Sie uns doch, was wir für Sie tun können. Er hat gelächelt und gesagt: Das ist, glaube ich, die falsche Frage. Die Frage wäre, was wir für uns alle tun können, da wir im selben Boot sitzen.«

Vielleicht wäre eine bessere Metapher die zweier Eisenbahnzüge, die in zwei verschiedene Richtungen fahren. Nach dem Fall der Mauer verlor der Zug des Ostens seine Lokomotive und seinen Fahrplan, und wir versuchten, unsere Wagen an den westlichen Zug anzukoppeln. Dieser war in Bewegung und ist es immer noch. Das Problem ist, dass wir nicht mehr sicher sind, ob er in die richtige Richtung fährt.

Von der Diktatur zur Postdemokratie

Bei »Postdemokratie« denke ich an das Buch von Colin Crouch, das die Theorie entwickelt, dass die westlichen Demokratien nun in ein neues Stadium eintreten, in welchem die wirtschaftlichen Eliten zunehmenden Druck auf die Regierungsentscheidungen ausüben und die Bevölkerung immer weniger Möglichkeiten hat, dem zu widersprechen.

Crouchs Theorie wird durch eine kürzlich in den USA veröffentlichte Studie bestätigt (Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens von Martin Gilens [Princeton University] und Benjamin I. Page [Northwestern University]). Die Verfasser haben Antworten auf über 1500 Einzelfragen bei Meinungsumfragen zwischen 1981 und 2002 analysiert. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Wirtschaftseliten und Lobbys per se bedeutenden Einfluss auf die amerikanische Regierung haben, während der normale Bürger oder Interessengruppen als Einzelne in der Masse gesehen geringen oder keinen Einfluss besitzen. Mit anderen Worten: Die wenigen Wohlhabenden bestimmen einen großen Teil der Politik, während der Durchschnittsamerikaner nur geringe Macht hat.

Während vor der Periode, welche Crouch als Postdemokratie bezeichnet, im Westen immerhin eine Phase der Demokratie herrschte, so haben wir uns in vielen ehemals kommunistischen Ländern – wobei Albanien gewiss ein extremer Fall ist – von der Diktatur direkt in die Postdemokratie bewegt, in einen Zustand korrupter oligarchischer Systeme, einen von partikularen Interessen gefangengesetzten Staat, ohne dass dazwischen die Erfahrung der Demokratie gelegen hätte.

Ich möchte unsere Postdemokratie mit Norberto Bobbios Begrifflichkeit der Rechten und der Linken zu erklären versuchen, wie er sie in seinem Buch Destra e sinistra (1994) entwickelt hat. Nietzsche und Rousseau haben einander entgegengesetzte Ansichten in der Frage, ob wir gleich oder ungleich sind; Bobbio geht davon aus, dass wir zur gleichen Zeit beides sind. Ihm zufolge definiert sich der politische Unterschied zwischen rechts und links in den verschiedenen Haltungen, die wir zu Gleichheit oder Ungleichheit einnehmen. Wer sich der Linken zugehörig fühlt, legt in seinen moralischen und politischen Interventionen größeres Gewicht auf das, was die Menschen gleich macht, er sucht nach Mitteln und Wegen, die Ungleichheit zu verringern. Die Rechte ist der Ansicht, Ungleichheit lasse sich nicht abschaffen und solle auch gar nicht unterdrückt werden, weil sie sich insgesamt zum Nutzen aller auswirke. Dann verknüpft Bobbio diese beiden Haltungen mit der Frage der Freiheit. Ihm zufolge stellt die extreme Linke eine Verbindung der Insistenz auf Gleichheit mit dem Mangel an Freiheit dar, während die extreme Rechte durch diesen Mangel an Freiheit in Verbindung mit Insistenz auf Ungleichheit gekennzeichnet ist. Näher zur Mitte schwingt das Pendel durch die Positionen Mitte-links (Insistenz auf Gleichheit in Verbindung mit Freiheit) und Mitte-rechts (Insistenz auf Ungleichheit in Verbindung mit Freiheit).

Während, wie Crouch meint, in den demokratischen Ländern Europas sowie besonders in den USA das Pendel zu weit nach rechts ausgeschlagen hat, so ist es in unseren Ländern sehr rasch von der äußersten Linken zur äußersten Rechten gewandert, also zu einer neuen Bedrohung der Freiheit, wenn nicht zu ihrem völligen Fehlen.

Was bedeutet das für die Kultur? Welche Kultur hat dieses System entwickelt?

Vom Nationalkommunismus zum Nationaleuropäismus

Unter Nationalismus verstehe ich die nationalistische Geschichts­erzählung, die – wie anderswo – seit dem 19. Jahrhundert auf dem Balkan entwickelt worden ist und auf den hauptsächlichen Mythen der nationalen Romantik beruht, typischen Mythen des romantischen Europas, welche den Stolz darauf feiern, dass man einem einzigartigen Volk angehöre, und die Geschichten der jeweiligen Vergangenheit rühmen, die Sprachen, die Helden und so fort. Diese Erzählung ist charakterisiert durch etwas, das der serbische Ethnologe Slobodan Naumović in einem Essay, den wir vor kurzem auf Albanisch veröffentlicht haben (in Perpjeka), als »Syndrom des doppelten Insiders« bezeichnet.

Naumović schreibt über Ethnologen – doch lassen sich seine Ausführungen auch auf Historiker, Schriftsteller und ganz allgemein auf den größten Teil der literarischen Elite beziehen. Er betrachtet sie als doppelte Insider in dem Sinne, dass sie Teil der großen ethnischen Gruppe sind, der sie zugehören, und mit dieser die Sprache, die Traditionen und Wertvorstellungen teilen, sowie gleichzeitig die Interessen und Werte jener speziellen gesellschaftlichen Untergruppierung (bestehend aus Intellektuellen, die teilweise auch als Politiker agieren) vertreten, »deren Aufgabe es ist, die Identität und die Interessen der umfassenderen Gruppe nicht nur zu erforschen, sondern zu konsolidieren und notfalls zu erfinden, und sie außerdem mit der Macht ihrer Argumente zu verteidigen, wenn sie von rivalisierenden Gruppen in Frage gestellt werden.« (»Romanticists or Double insiders? An Essay on the Origin of Ideological Discourses in Balkan Ethnology«, in: Ethnologica Balkanica (2) [1998])

Naumović zufolge gibt es drei Charakteristika für die doppelten Insider: Sie gehören der großen Gruppe an, sie sind Befürworter dieser Gruppe, und sie sehen die Gruppe als Opfer eines Anderen.

Die Machtideologie des kommunistischen Diktators Enver Hoxha bestand in einem paradoxen Synkretismus aus diesem nationalistischen Narrativ mit der kommunistischen Ideologie. Einerseits verherrlichte die kommunistische Elite die historische Vergangenheit des albanischen Volkes, förderte den Nationalstolz, betonte die Tatsache, dass die Albaner Opfer ihrer Nachbarn geworden waren, und andererseits lehrte sie teleologisch den Kommunismus als Endziel des Weges des albanischen Volkes durch seine Geschichte. Hoxha und seine Partei erhoben den Anspruch, es sei ihre Aufgabe, nicht nur das Volk vor seinen Feinden zu schützen, sondern die Albaner auch zu jenem hehren Ziel zu führen (mit Hilfe des großen Bruders, der Sowjetunion beziehungsweise Chinas). Ein komplettes Propagandasystem – Literatur, Film, Malerei wie auch Geschichtsschreibung, Ethnologie, Archäologie – diente diesem Zweck. Diese Kultur stellte die Existenz der Menschen zwischen die Glorie einer virtuellen Welt und das Elend der realen. Sie machte es den normalen Menschen unmöglich, ihr Elend zu sehen und zu begreifen, da sie keinerlei Fähigkeit zu kritischem Denken entwickeln konnten. Sie waren gezwungen, sich in jene seltsame Verlogenheit zu flüchten, welche verhinderte, dass sie das Elend ihres Alltags erkannten. Im Lauf der Zeit wurde die Perversion, welche von jener Schizophrenie, jenem »nicht geglaubten Glauben«, ausgelöst wurde, ein zusehends bewusster Mechanismus des Repressionssystems.

Nach den 1990ern war die kommunistische Ideologie als Verheißung einer glänzenden Zukunft verschwunden, doch das nationalistische Narrativ blieb und war wie in vielen Ländern des Balkans sogar noch stärker geworden. (Hier könnte ich etwas zu Jugoslawien sagen und den vielen »Jugo-Nostalgikern« eine Frage stellen, die nach meiner Ansicht Titos Jugoslawien mehr loben, als dieses es verdient. Es stimmt schon, dass Jugoslawien ein sehr viel offeneres und freieres Land war als Albanien, aber ich begreife trotzdem nicht, weshalb die einzigen Dissidenten in Titos Regime Nationalisten wie Adem Demaçi und Dobrica Ćosić waren und nicht wie in anderen Ländern Leute wie Havel oder Adam Michnik, die mehr Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte forderten.)

Doch kehren wir zu Albanien zurück. Rasch wurde mit dem gewohnten teleologischen Denkmuster aus der nationalkommunistischen Ideologie (da ja eine Kultur des Zweifels und des kritischen Denkens fehlte) die Idee Europas mystifiziert und als Ersatz für die kommunistische Ideologie verwendet, als ein Glaube, als das Versprechen einer »glänzenden Zukunft«. Und natürlich (mit Hilfe der neuen großen Brüder, der USA und Europas) zur internationalen Legitimierung einer politischen Elite genutzt, die im Wesentlichen aus Kommunisten bestand, die zu Nationaleuropäern geworden waren.

Bei dieser Mystifizierung Europas spielen der Mythos des Marktes und der Mythos des Wirtschaftswachstums eine große Rolle – daher die konsumorientierte Kultur, welche das Land beherrscht.

Deshalb betrachte ich die neue Machtideologie unserer Elite als Nationaleuropäismus: Für die Politiker und Oligarchen, welche das Land beherrschen und dabei eine sehr ähnliche Haltung haben wie die alte Nomenklatura, ist die Kontrolle und Förderung dieses Narrativs entscheidend für den Machterhalt.

Doppelsprache

Der Synkretismus aus Liberalismus und Nationalismus ist paradox, weil die beiden einander bekämpfen sollten (wie ja auch der Kommunismus eigentlich gegen den Nationalismus hätte sein sollen). Doch wir leben in diesem Paradoxon. Dafür haben unsere Politiker eine doppelte Sprache entwickelt, eine für das Landesinnere, eine Mixtur aus Liberalismus mit der nationalistischen Suada des Hasses und der Überlegenheit über die Anderen (deren Existenz man bestenfalls ignoriert), und eine Sprache für draußen (für Brüssel), die Sprache der Integration in die EU. In dieser Doppelsprache reden unsere Politiker so, dass es erscheint, als würden wir mit einem Satz im virtuellen Europa unserer glänzenden Zukunft landen – aber ohne unsere Feinde, die Serben und die Griechen, die in der alten Realität des nationalistischen Hasses zurückbleiben.

Wiederum setzt dieser ideologisierte Diskurs unser Leben zwischen eine idealisierte virtuelle Welt und das Elend der realen Welt – und wir sind nicht in der Lage, unsere Wirklichkeit zu begreifen, zu analysieren und die Situation zu verändern.

In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, zu betonen, dass für die Ambivalenz des Diskurses der Balkanpolitiker (die sich manchmal ja sogar einer dreifachen Sprache bedienen: einer für das eigene Land, einer für Brüssel und noch einer für Moskau, im Falle der Serben oder Ankara, im Falle der Albaner) auch die ambiguen Unklarheiten Europas entscheidend waren, besonders während der letzten Jahre der Wirtschaftskrise, die ein Klima des mangelnden Vertrauens in das Projekt der europäischen Union schufen. Tatsächlich ist die doppelte Sprache Albaniens so etwas wie ein Spiegel der doppelten Sprache Europas – nicht nur im Hinblick auf das Anwachsen der nationalistischen Parteien in den europäischen Ländern, sondern auch auf die Reden vieler westlicher Politiker, die bei Wahlveranstaltungen in ihrem Land eine Sprache gebrauchen und eine andere im Namen Brüssels führen.

Für eine Kultur, die unseren Möglichkeitssinn stimuliert

Ich betrachte dies hier als eine Begegnung mit alten Freunden, mit denen ich in den 1990er Jahren Hoffnungen geteilt und gemeinsame Anstrengungen unternommen habe, die Demokratie und eine Kultur der Demokratie aufzubauen. Zu Beginn der Neunziger gründete ich die Zeitschrift Perpejka als Versuch – das bedeutet der Titel –, in die albanische Kultur das kritische Denken einzuführen, die Kultur des Zweifels, um die nationalistischen und kommunistischen Mythen zu dekonstruieren, den Lesern zu helfen, Diversität zu akzeptieren, und so weiter. In den ersten Jahren, als Europa uns half, eine Zivilgesellschaft aufzubauen, fanden wir große Unterstützung, sogar finanziell, und viele Intellektuelle waren an diesem Vorgang beteiligt. Doch die Mafia und die Oligarchen waren schneller beim Aufbau ihres Systems und bei der Übernahme des Staates. Ihre Ökonomie, beruhend vor allem auf Korruption und Kriminalität, begann rasch die Politik und den öffentlichen Raum zu bestimmen. Sie konnten beispielsweise sehr viel mehr Geld investieren als die westlichen Stiftungen, um Intellektuelle zu korrumpieren und für ihre Interessen arbeiten zu lassen. Das hauptsächliche Werkzeug hierbei waren die Privatmedien, die sie nach dem Beispiel Berlusconis in Italien einrichteten. (Deshalb denke ich, wenn ich von Europa und seiner Kultur spreche, nicht nur an Werte wie Rechtssicherheit, Solidarität, Menschenrechte, Sozialstaat, Toleranz für Diversität usw., sondern auch an die Konzentration von politischer Macht, ökonomischer Macht und Medienmacht in denselben Händen weniger Reicher und an eine Berlusconi-Kultur, welche für die materialistischen Werte der Klientelisierung und Verdinglichung der Menschen steht.) Im Ergebnis liefen viele der Intellektuellen, welche in den 1990ern begonnen hatten, die Zivilgesellschaft aufzubauen, zu jenen neuen Medien über oder wurden Politiker und stellten bald fest, dass sie für die Interessen der neuen Oligarchen arbeiteten. Es ist dies wiederum ein Regime – kein Polizeistaat, sondern ein »Medienregime«, um eine Formulierung von Umberto Eco zu verwenden. Diese Medien führen eine fortwährende Gehirnwäsche durch, indem sie die Konsumentenkultur verbreiten, kombiniert mit dem nationalistischen Narrativ. Die junge Generation ist fast ganz und gar in dieser Atmosphäre erzogen worden. Die Konsumentenperspektive schließt nationalistische Affekte keineswegs aus, da sie Konformität mit sich bringt und Gefühle der Einsamkeit erzeugt, die sehr leicht dazu führen, dass sich die Menschen danach sehnen, in der Masse aufgehoben zu sein. So erkläre ich mir den nationalistischen Ausbruch in Albanien nach dem Fußballspiel Serbien gegen Albanien im Stadion von Belgrad. Es ist sehr bezeichnend, dass vor dem Spiel ein albanischer Oligarch den Spielern eine Million Euro für einen Sieg seines Landes in Aussicht stellte. Nach dem Zwischenfall, bei dem im Stadion eine Drohne mit der großalbanischen Flagge gestartet wurde, bot wiederum ein serbischer Oligarch aus den USA der italienischen Mafia eine Million Euro an, wenn sie den Albaner aufspüren würde, der hierfür verantwortlich war, und ihm »eine Lektion erteilte«. Wie kann man sich erklären, dass die Oligarchen bereit sind, Millionen für so etwas auszugeben, anstatt in ihrem Land eine Schule oder ein Kulturzentrum zu bauen, wenn nicht mit dieser eigenartigen Kombination von Konsumismus und Nationalismus, (die sich im Namen ihrer eigenen Macht vollzieht)?

Deshalb kam ich zur Debate on Europe nach Belgrad mit den Gefühlen eines Verlierers, eines Pessimisten (vielleicht eines tragischen Pessimisten), aber kaum mit Optimismus. Ich stelle fest, dass der Geist meiner Zeitschrift, der Geist des Versuchs, das kritische Denken in unsere Kultur einzuführen, heute schwächer ist als in den 1990er Jahren. Ich stelle fest, dass die Resignation der Menschen gegenüber der vom postdemokratischen System oktroyierten Kultur hingegen gewachsen ist.

Vor diesem Hintergrund kann ich nicht von einer Kultur der Demokratie in unserem Land sprechen. Angesichts des Umstandes, dass die Demokratie ein immerwährender Prozess ist und kein Ziel, sollten wir auch nicht von einer gegebenen Kultur der Demokratie ausgehen. Wir müssen vielmehr über eine Kultur sprechen, welche den demokratischen Prozess fördert, um den Einfluss der Menschen in der Politik und ihre Teilnahme daran zu erhöhen, und umgekehrt von einem demokratischen Prozess, der diese Art von Kultur hervorbringt. Und hier will ich nur eines betonen: Als menschliche Wesen haben wir zwei wichtige Sinne. Der eine ist der Sinn für Anpassung. Wir passen uns den Situationen um uns herum an, der Umwelt, dem Klima und so fort. Diese Fähigkeit besitzen auch die Tiere. Aber wir haben etwas, was unter allen Lebewesen einzigartig ist. Das ist der Sinn dafür, die Umwelt unseren Bedürfnissen anzupassen, Projekte zu schaffen und sie zu verwirklichen. Dies ist unser Möglichkeitssinn. Ich glaube, unsere herrschende Kultur stimuliert in weit höherem Maße unseren Anpassungssinn als unseren Möglichkeitssinn. Von Kindheit an werden wir dazu erzogen, uns dem System anzupassen. Wenn ich über eine Kultur der Demokratie, über eine Kultur in der Demokratie nachdenke, dann meine ich eine Kultur, welche unserem Möglichkeitssinn korrespondiert, unserer Kreativität. In Buch I seiner Essais schreibt Montaigne: »Plutôt la tête bien faite que bien pleine«. Dort ist die Rede von den Bienen, die von einer Blume zur anderen fliegen, um den Nektar zu sammeln, doch dann den Honig erzeugen, ihr eigenes Produkt. Dieser Honig versinnbildlicht die Kultur, die ich meine, wenn ich an die Demokratie denke, eine Kultur, die das Erzeugnis von Menschen ist, die ihren Möglichkeitssinn kultiviert haben. Augenblicklich sind wir davon wohl nicht nur in unseren Ländern, sondern in Europa selbst weit entfernt. Wir müssen wichtige Änderungen an unserem Erziehungssystem vornehmen, um diese Kultur zu befördern. Menschen, die auf ihren Möglichkeitssinn vertrauen, werden für eine Verbesserung der Situation eintreten. Nur sie werden wohl den inhumanen Kapitalismus, der etabliert wurde, humanisieren, um den Prozess der Demokratisierung in unsere Sozialisierung einzuschreiben.

Aus dem Englischen von Joachim Kalka