Debates on Europe III-V

Debatten
in Bukarest, Athen, Belgrad und Berlin

Angesichts der aktuellen Spannungen vor allem in Osteuropa diskutieren Schriftsteller und Wissenschaftler aus europäischen Ländern über zentrale Herausforderungen des europäischen Projekts.

2014 haben die Debatten in Bukarest (III), Athen (IV) und Belgrad (V) stattgefunden. Die Leitfrage war: »Wie viel Europa darf es sein?«. Die Protagonisten dieser Begegnungen sind Ende Februar 2015 in Berlin zusammenkommen, um ihre Positionen zu diskutieren.

Eine Kooperation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der S. Fischer Stiftung und der Allianz Kulturstiftung, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Vladimir Arsenijević und Ana Pejović
Wie sicher ist unser sicheres europäisches Zuhause wirklich?

Vom 5. bis 7. Dezember 2014 wurde in Belgrad die fünfte »Debatte über Europa« abgehalten, unter dem bezeichnenden Titel »Wovon wir reden, wenn wir von Europa reden«. Nach ähnlichen Veranstaltungen in Budapest, Bukarest und Athen war es gewissermaßen logisch, diese dynamische Debattenserie über Europa (organisiert von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, S. Fischer Stiftung und Allianz Kulturstiftung) in Belgrad fortzusetzen, der Hauptstadt Serbiens und der größten Stadt des europäischen Südostens, Westbalkans oder Ex-Jugoslawiens (suchen Sie sich jene Bezeichnung aus, die Ihnen am besten gefällt).
Wir vom Belgrader Verein »Krokodil« haben hier in Belgrad alles getan, um unseren deutschen Freunden und Mitarbeitern bei der Organisation und Durchführung dieser Veranstaltung zu helfen. Diese Debatte über Europa in Belgrad stellte für uns eine ziemliche Herausforderung dar.
Geographisch betrachtet, befindet sich Serbien sehr nah am Zentrum des europäischen Kontinents, und Serbien stand auch im Laufe seiner gesamten Geschichte unablässig in einem unmittelbaren Kontakt mit der europäischen Kultur. Dennoch blieb Serbien aus zahlreichen historischen Gründen im Hinblick auf das, was man als fundamentale »europäische Werte« bezeichnet, außen vor. Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens und die brutalen ethnischen Kriege, die der erste Präsident Serbiens, Slobodan Milošević, vorangetrieben hatte, brachten unermessliches Leid über die Menschen in der gesamten Region. Die Bombardierung Serbiens durch die NATO setzte diesen Kriegen ein Ende, womit in der Region das 20. Jahrhundert und das zweite Millennium zu Ende gingen. All das resultierte in einer weiteren Entfernung Serbiens von »Europa« und einer Vertiefung dieses Grabens hin zu ungeahnten Grenzen. Die Ereignisse hatten einen starken Einfluss darauf, wie die EU in der serbischen Gesellschaft wahrgenommen wird, unabhängig von der statistischen Tatsache, dass fast alle politischen Parteien und ein Großteil der Bevölkerung sich zumindest nominell dafür aussprechen, dass Serbien Teil dieser einzigartigen Union der Völker wird.
Bei der Belgrader Debatte über Europa kamen Intellektuelle aus Serbien, den Nachbarländern in der Region sowie aus anderen europäischen Ländern (z. B. Schweden und Deutschland) zusammen. Die dadurch entstandene Gesprächssituation erwies sich als komplex. Dass die angekündigten Themen von aktueller Bedeutung sind, zeigte sich auch daran, dass die Veranstaltungen ausgesprochen gut besucht und in den Medien stark präsent waren.
An den drei oben genannten Tagen wurden drei öffentliche und eine interne Debatte abgehalten, mit einer Dichtermatinee zum Abschluss. Es stellte sich heraus, dass die große Halle des Belgrader Kulturzentrums zu klein war, um alle interessierten Besucher am ersten Abend aufzunehmen. Im Laufe der Veranstaltung wurde es immer hitziger, sowohl zwischen den Diskussionsteilnehmern, als auch im zahlreich erschienenen Publikum, was darauf schließen ließ, dass es sich um ein lebendiges Thema handelte, dem das Belgrader Publikum eine große Bedeutung beimaß. Diskutiert wurde eloquent, energisch, zuweilen auch polemisch, und das Publikum schaltete sich eindringlich und häufig in die Diskussion ein, nicht etwa, um Fragen zu stellen, sondern um auf Mängel in den Stellungnahmen der Diskussionsteilnehmer hinzuweisen oder um die eigene Sichtweise auf die dargestellte Problematik kundzutun. Wir konnten folgende Beobachtungen machen, und zwar nicht nur im Laufe dieser ersten Debatte, sondern auch im Zuge der anderen drei, die am Morgen, am Nachmittag und am Abend des 6. Dezember im Belgrader Goethe-Institut und im Pavillon des Centre for Cultural Decontamination abgehalten wurden:

- Die Diskussionsteilnehmer aus Kroatien, dem jüngsten EU-Mitglied, übten am heftigsten Kritik an der Europäischen Union, was ein bezeichnender Umstand ist, den man nicht verharmlosen oder abschwächen sollte.
- Die Diskussionsteilnehmer der älteren Generation aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens glitten leicht in eine Art komparative »Jugonostalgie« bzw. retrospektive Nostalgie ab, was ihren Blick auf Gegenwart und Zukunft verstellte, da diese Nostalgie kulturell und nicht ideologisch motiviert ist.
- Die Diskussionsteilnehmer aus den ehemaligen Ländern des Ostblocks verglichen ihre eigenen Erfahrungen in harten kommunistischen Diktaturen mit dem relativ weichen Modell des jugoslawischen Sozialismus, der auf Selbstverwaltung und Blockfreiheit basierte. Diese Diskussionsteilnehmer waren häufig nicht bereit oder nicht in der Lage, die Standpunkte und Motive der Teilnehmer aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens nachzuvollziehen.
- Die Diskussionsteilnehmer aus den reicheren EU-Ländern reagierten mit Verwunderung darauf, dass die Teilnehmer aus Nicht-EU-Staaten sehr irritiert waren, wenn die Begriffe »EU« und »Europa« synonym verwendet wurden. Die Diskussionsteilnehmer aus den reicheren EU-Ländern waren ebenfalls verwundert über die bereits erwähnte »Jugonostalgie«.
- Jene Teilnehmer, die die Standpunkte der neuen Linken vertreten, ließen sich zu einer Grundsatzkritik am Banken-Kapitalismus und an der Wirtschaftsglobalisierung hinreißen, ohne jedoch klar definierte Lösungen anzubieten
- Mitunter waren mehr Phrasen zu hören als echte Argumente.
- Das Publikum kam in erster Linie, um die eigenen Standpunkte über die diskutierte Problematik zu bestätigen. Es ging weniger darum, sich auf dynamische Diskussionen mit den Teilnehmern einzulassen. Aufgrund regionaler Bezüge dominierten lokale Themen, wodurch jene Diskussionsteilnehmer, die mit der Politik bzw. mit den Politiken im Südosten Europas nicht vertraut sind, ausgeschlossen waren.
- Das Publikum war zahlreich erschienen und hatte großes Interesse an den Themen, dennoch waren die Besucher im Endeffekt nicht zufrieden mit den Resultaten der Debatte (diesem Text fügen wir den ausgesprochen eloquenten Brief einer Besucherin an, die ihren Standpunkt zur Belgrader Debatte über Europa überzeugend und durchdacht dargelegt hat).
- Im Anschluss an die Belgrader Debatte über Europa hatten wir den Eindruck, dass es zwar scheinbar keine klaren Schlussfolgerungen gab, dennoch war im Laufe dieser drei klirrend kalten Tage in der Stadt an der Mündung zwischen Save und Donau etwas Bedeutsames passiert: Das, was wir vom Verein Krokodil geglaubt hatten, wurde ganz von allein und auf die denkbar natürlichste Art und Weise bewiesen. Europa ist nämlich keine klassische Statue aus weißem Marmor mit einem goldenen Lorbeerkranz auf der glatten Stirn eines Epheben oder Apollos. Nein, Europa ist rau und lebendig und befindet sich in einem permanenten Zustand der Wandlung. Europa entfacht Leidenschaften und lässt die Temperatur höher steigen. Und das ist gut so. Der europäische Wandlungsprozess wird nie zu einem Abschluss kommen, und sollte es eines Tages doch passieren, wäre das kein Sieg, sondern nichts anderes als die Niederlage eines jeglichen europäischen Konzepts. Denn Europa kann nicht als ein abgeschlossenes, steifes und für alle Zeiten lackiertes Ding existieren. Europa ist rätselhaft und ambivalent und gehört allen Europäern gleichermaßen. Europa ist größer und ungleich bedeutender als die EU oder jedwede Union, die sich auf europäischem Territorium oder auf Teilen davon bildet, wichtiger als irgendein »europäisches« Attribut, das uns in diesem oder jenem historischen Abschnitt aufgrund der inhärenten menschlichen Unzulänglichkeit wichtiger oder ganzheitlicher als Europa selbst erscheinen mag.
Daher, solange wir uns überhaupt die Frage stellen können, wovon zum Teufel wir da reden, wenn wir von Europa reden, und solange wir diese Fragestellung energisch, aber zivilisiert diskutieren, legen wir Zeugnis ab über die substanzielle Vitalität des Kontinents, auf dem wir leben.


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Sehr verehrte Organisatorinnen und Organisatoren der Belgrader Debatte über Europa,

Zunächst möchte ich Ihnen für die Organisation dieser Veranstaltung danken und für die Gelegenheit, gemeinsam darüber nachzudenken und zu hinterfragen, was Europa für uns bedeutet. Die Podiumsdiskussionen waren sehr inspirierend und haben mich dazu angeregt, einige Eindrücke mit Ihnen zu teilen.
Mein erster Eindruck nach den Debatten ist, dass eine Analyse der komplexen Probleme und Phänomene, mit denen die EU-Beitrittskandidaten und andere Staaten konfrontiert sind, fehlt. Ich möchte zwei Beispiele anführen, die seitens der Diskussionsteilnehmer am häufigsten genannt wurden. Das erste ist die niedrige Beteiligung am Referendum über den Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union. Ist die niedrige Beteiligung eine Folge der unterentwickelten demokratischen Kultur der Bürger in dieser Gegend, die sich auch bei Nationalratswahlen zeigt und die sichtbar wird durch eine geringe Beteiligung der Bürger am politischen Leben generell? Oder liegt es daran, dass die Menschen den Prozess des EU-Beitritts nicht verstehen und unzureichend darüber informiert sind, was dieser Prozess bedeutet? Geht es darum, dass die Politik sich von den Bürgern entfremdet hat, ein Trend, der sich auch in anderen EU-Ländern abzeichnet? Oder geht es wirklich darum, dass die Bürger Kroatiens eine negative Einstellung gegenüber der Europäischen Union haben? Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Kapitalismuskritik, die wir von mehreren Sprechern vernehmen konnten. Welche Form des Kapitalismus sehen wir in der Region? Ist er die Folge eines gescheiterten Versuchs, demokratische und institutionelle Strukturen aufzubauen, und sollen wir alle dagegen kämpfen, indem wir auf Rechtsstaatlichkeit und Transparenz bestehen? Oder handelt es sich bei dieser Form des Kapitalismus um eine Kraft, die alle Gesellschaften regiert, unabhängig von ihrem Entwicklungsgrad, und deren ausbeuterischer Komponente wir hilflos ausgeliefert sind? Ich denke, es ist unumgänglich, eine tiefergehende akademische Diskussion über diese Fragen zu führen, denn falls wir die Komplexität dieser Probleme und Phänomene vernachlässigen, kann das dazu führen, dass falsche Schlussfolgerungen gezogen werden.
Mein nächster Eindruck bezieht sich auf das Fehlen von Ideen/Entscheidungen/Alternativen/Vorschlägen dazu, wie einige der Probleme zu lösen sind, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen. Stattdessen hatten wir die Gelegenheit, zahlreiche kritische Anmerkungen zu hören, die meines Erachtens keineswegs konstruktiv waren. Einerseits wurde häufig das Beispiel Jugoslawiens in Erinnerung gerufen, was ich im nächsten Passus kommentieren möchte. Andererseits wurde als eine mögliche Lösung angeführt, dass die Gesellschaft die Dinge selbst in die Hand nehmen sollte; das mag eine interessante These in akademischen Kreisen sein, aber wenn eine solche Aussage an eine Öffentlichkeit gerichtet ist, in der es keine entwickelte demokratische politische Kultur gibt, dann kann der Effekt fatal sein. Als Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft wachgerüttelt ist, wurden zwei Beispiele genannt: die Besetzung eines Kinos und die Blockade der Philosophischen Fakultät. Wir müssen jedoch bedenken, dass die Blockade der Philosophischen Fakultät (soweit es mir bekannt ist) inhaltlich keinen Zusammenhang mit einer Kritik an der Qualität der Bildung aufwies. Es ging nicht um das Problem käuflicher Abschlüsse, um korrumpierte Professoren oder um mangelnde Arbeitsmöglichkeiten für junge Menschen. Nein, Ziele der Blockade waren, die geforderte Punkteanzahl beim Übergang in das jeweils nächste Studienjahr zu verringern und die Senkung der Studiengebühren zu erreichen, was in weiterer Folge zu einem Qualitätsverlust der Hochschulbildung führen wird. Hier haben wir also ein gutes Beispiel zur Illustrierung dessen, was passiert, wenn in einem Staat mit verlorenen gegangenen Werten die Gesellschaft wachgerüttelt werden soll und wie es aussehen kann, wenn eine Aktion im Dienste vollkommen falscher Ziele steht.
Der letzte und stärkste Eindruck betrifft die häufige Berufung auf die jugoslawische Erfahrung und auf das unvermeidliche Lamento ob des Zerfalls dieses Staates. Selbstverständlich müssen wir aus unserer Vergangenheit lernen und allgemein anerkannte Regeln daraus ableiten, die uns heute nützlich sein können. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die Generation der Menschen, die in Jugoslawien gelebt haben, sich noch immer nicht vollständig vom jugoslawischen Erbe distanzieren kann. Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass nach dem Zerfall Jugoslawiens kein neues Kulturmodell geschaffen wurde. Statt sich auf die Suche nach einem neuen Kulturmodell zu begeben, fühlt diese Generation sich jedoch verbunden mit etwas, das sich nicht zurückholen lässt. Ich denke, es ist an der Zeit damit aufzuhören, in der Vergangenheit zu leben. Deshalb bin ich der Meinung, dass die jungen Intellektuellen weiterhin darüber diskutieren sollten, was Europa für uns bedeutet. Ich werde versuchen, in Zukunft daran zu arbeiten.
Schließlich und endlich – aber vielleicht ist es eigentlich ein Anfang – bin ich diplomierte Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Internationale Politik, mit einem Masterdiplom für Europäische Interdisziplinäre Studien vom Europakolleg, wo ich als Stipendiaten der Flämischen Regierung und des Europakollegs studieren durfte. Während des Masterstudiums hatte ich die Gelegenheit, gemeinsam mit Studierenden aus mehr als 26 Ländern bei den besten Fachleuten auf diesem Gebiet (darunter auch Marie-Janine Calic, Gastprofessorin am Europakolleg) zu studieren und mit zahlreichen Funktionären der Europäischen Union zu sprechen. Als eine junge, gut ausgebildete, stabile Person, die sich klare Ziele steckt und fortwährend lernen und sich weiterentwickeln will, hatte ich zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, in der Gesellschaft meiner Kollegen aus der Europäischen Union unterdrückt oder entrechtet zu sein, ganz im Gegenteil, ich betrieb mein Studium mit Erfolg und wurde in allen Situationen als eine gleichberechtigte Gesprächspartnerin betrachtet. Obwohl die Struktur eines Staates an sich sehr komplex ist, kann ich nicht umhin, mein persönliches Beispiel damit zu vergleichen und festzustellen, dass stabile demokratische Staaten, die klar formulierte Entwicklungsziele haben, die Erfolge erzielen, für die Diskussion und Bildung Priorität genießen, keineswegs als peripher oder unterdrückt wahrgenommen werden, sondern überall in der Welt geschätzt und geachtet sein werden. Dieser Weg zum Erfolg ist allerdings allein unsere Aufgabe.
Ich möchte mich noch einmal für die Gelegenheit bedanken, in Belgrad eine Diskussion über Europa abhalten zu dürfen. Diese Veranstaltung hat sehr augenscheinlich gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir diese Art von Diskussion auch in der Zukunft fortsetzen.

Herzliche Grüße,
Jelena Petrović

Aus dem Serbischen von Mascha Dabić